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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaap Ter Haar
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war erst seit zwei Tagen damit beschäftigt und in so kurzer Zeit konnte man keine Wunder erwarten.
    »Es ist gleich halb zwölf. Für heute Vormittag ist es genug«, sagte Mutter, während sie die Schreibmaschine fortschob. Seufzend stand Beer auf. Seinen Weg in die untere Etage fand er schon viel besser als in den vorangegangenen Tagen. In seiner Hand spürte er den weißen Stock, den Vater und Mutter zusammen mit der Blindenschreibmaschine besorgt hatten und der schon einen festen Platz in der Korridorecke bekommen hatte.
    »Beer, was willst du jetzt tun?«
    »Ich geh ein bisschen Luft schnappen.«
    »Ja . . . Ja, tu das.« Es klang schon etwas zögernd, aber Mutter sagte diesmal glücklicherweise nicht, er müsse vorsichtig sein.
    Er öffnete die Tür und ging hinaus. Während er vorsichtig vorwärtstastend seinen Weg zum Gartentorsuchte, hatte er das Gefühl, dass ihm Mutter durchs Küchenfenster nachschaute. Fühlte sie sich beunruhigt, als sie ihn so hilflos gehen sah? Würde sie rufen, er solle im Garten bleiben und dürfe noch nicht auf die Straße?
    Beer bewegte seinen Stock hin und her und fand das Gartentor. Mutig ging er weiter und bog plötzlich nach rechts ab. So war er am schnellsten aus Mutters Blickfeld.
    Der Stock glitt an der Bordsteinkante entlang. Wo wollte er hin? Ja, in den kleinen Park. Da stand eine Bank, die ohne viel Mühe zu finden sein musste. Er musste einfach bis zur ersten Kreuzung gehen und dort die Straße überqueren.
    In Gedanken war ihm alles so einfach erschienen. Wie schwer aber war so ein kleiner Spaziergang in Wirklichkeit. Er kam vom Bürgersteig ab. Er stieß gegen den Briefkasten, weil er vergessen hatte, dass das Ding da stand. Der Schweiß brach ihm aus. Als er die Kreuzung endlich erreicht hatte, zitterten ihm die Knie und er fühlte sich in der Dunkelheit hoffnungslos verloren.
    Stand er auch an der richtigen Stelle? Konnte er die Straße jetzt in gerader Richtung überqueren oder musste er sich mehr links halten? Ein Auto schob sich vorbei. Schritte. Hohe Absätze klapperten auf Stein. Und plötzlich eine Stimme: »Kann ich dir helfen?«
    »Nein, danke. Ich mach das schon selbst.« Er musste es allein tun, sonst lernte er es nie. Die Absätze klapperten weiter und verschwanden.Beer wollte hinüber, denn es schien jetzt auf der Straße ruhig zu sein. Stand er richtig? Es war dumm gewesen, Hilfe abzulehnen. Warum sollten Leute ihm nicht helfen können?
    »Jetzt . . .!«
    Er streckte seinen Stock aus und trat von der Bordsteinkante auf die Straße. Einen Augenblick lang das Gefühl der Angst. Nein, weitergehen. Auf der Straße stehen bleiben bringt Unglück. Undeutliche Verkehrsgeräusche. Ein Auto fuhr um die Kurve.
    »Ho . . .« Beinahe wäre er über die Bordsteinkante gestolpert, aber er hatte wenigstens die andere Straßenseite erreicht. Mein Gott, es erwies sich alles so unendlich viel schwieriger und komplizierter, als er es sich im Krankenhaus vorgestellt hatte.
    »Verdammt . . .!« Er lief in eine Hecke. Die Zweige stachen ihn. Wo war nur der Park? Links? Rechts? Wieder überfiel ihn ein Gefühl von Panik. Er tastete sich an der Hecke entlang und bewegte sich schrittchenweise weiter. Unter seinen Schuhen knirschte loser Kies, der über die Platten des Bürgersteigs verstreut war.
    »Mannomann!« Beer holte tief Luft. Die Hecke hörte auf. Stand er jetzt vor dem Parkweg? Oder womöglich vor dem Eingang eines wildfremden Gartens? Schritte hinter ihm. Ja, doch fragen. Menschen sind da, um einander zu helfen.
    »Hallo?«
    »Ja?« Die zögernde Stimme eines Mannes.
    »Steh ich hier vor dem Park?«
    »Uh . . . Park? Nein, ganz und gar nicht. Das is ’n Stück weiter.«
    Ein Mann mit einer Hasenscharte. Aber ein freundlicher Mann. Hilfsbereit ergriff er Beers Arm. »Soll ich dich schnell hinbringen?«
    »Gerne«, sagte Beer. »Ich sehe keinen Funken. Wenn ich nur davorstehe, dann weiß ich’s wieder.«
    Es war angenehm, tüchtige Schritte machen zu können und die Muskeln ihre normale Arbeit leisten zu lassen. Auf diese Weise kam man anständig vorwärts.
    »Hier ist es. Kann ich noch was für dich tun?«
    »Wo steht die Bank?«
    »Genau vor dir. Auf der rechten Seite des Weges. Willst du da hin?«
    »Das kann ich selbst. Herzlichen Dank!«
    »Nichts zu danken. Gern geschehen!«
    Langsam, Schritt für Schritt ging Beer den Weg entlang und tastete jeden Meter mit dem Stock ab. Solange der Kies unter seinen Sohlen knirschte, war er richtig.
    »Päng!« Der Stock schlug

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