Behalt das Leben lieb
den orangefarbenen Pyjama und den Spitznamen des Junkers hatte das Gespräch sofort wieder auf Fußball gebracht.
»Apropos Cruyff«, sagte Bennie zu Goof. »Hast du Sonntag im Fernsehen sein letztes Tor gesehen?«
»Klar! Fantastisch war das!«
Leere Wäscheklammern auf der Wäscheleine, dachte Beer. Zum ersten Mal spürte er eine leichte Sehnsucht nach Saal 3 und nach den Gesprächen mit dem Studenten. Ganz ehrlich war das nicht. Hatte er vor seinem Unfall nicht genauso begeistert über Fußball geredet? Und das hatte doch immer Spaß gemacht?
Nein, es lag nicht an Bennie und Goof. Er selbst schaffte den Sprung aus der Welt des Krankenhauses auf den Fußballplatz noch nicht.
»Beer, soll ich dir helfen?«, fragte Mutter, als offenbar alle ihren Teller leer gegessen hatten.
»Ich schaff’s allein. Das hab ich im Krankenhaus auch geschafft, wenn ich auch ziemlich gekleckert hab.«
»Du kannst so viel kleckern, wie du willst«, sagte Vater, dann war es still – vielleicht deshalb, weil Beer neben sein Fleisch gepikt und eine leere Gabel zum Mund geführt hatte.
»Was macht die Schule?«, fragte er schnell, weiler sofort spürte, dass sie ein wenig verwirrt zu ihm hersahen.
»Wir werden mit Klassenarbeiten totgeschlagen. Heute wieder zwei, Algebra und Franz.«
»Sybolt hat ’ne Fünf von Tams gekriegt, weil der gespickt hat!«
»Das werd ich nie mehr tun können«, sagte Beer. Niemand lachte, obwohl es doch als Scherz gemeint war.
Nein, das Festessen war nicht das Richtige. Beer stocherte im Lammfleisch herum, kleckerte mit seinem Salat und überlegte, dass es nicht an Vater und Mutter lag. Sie taten ihr Bestes, um es gemütlich zu machen. Woran lag es dann?
Plötzlich erkannte Beer, dass er geglaubt hatte, Anspruch auf alle Aufmerksamkeit erheben zu können, dass er, unbewusst, mehr Mitgefühl erwartet hatte. Deswegen zu schmollen hatte natürlich überhaupt keinen Sinn. Er musste den Sprung von Saal 3 in die kleine Welt seines Zuhause schaffen. Beer schob seine Gabel unter die gerösteten Kartoffeln und nahm einen Happen.
»Wo spielt ihr am Sonnabend?«, fragte er mit vollem Mund.
»Auswärts, gegen Victoria«, antwortete Bennie. »Das wird ’n hartes Spielchen. Wir müssen uns um den zweiten Platz schlagen.«
»Dann komm ich gucken«, sagte Beer, obgleich gucken nicht das richtige Wort war.
»Das fänd ich klasse«, rief Goof gleich. »Wenn du da bist, gehen wir natürlich extra scharf ran.«
»Ich hol dich ab«, sagte Bennie begeistert.
Plötzlich war die alte Vertrautheit wieder da. Ein Wort gab das andere: über Fußball, über die Schule, über Mädchen, über Partys und ja, auch über das Krankenhaus. Jetzt schien es fast, als reichten Worte nicht aus: Worte wie Wäscheklammern auf der Leine, die jetzt die saubere, manchmal leicht verblichene und verschlissene Wäsche aus dem Leben eines jeden festhielten.
Schon während des ersten Tages begriffen Vater und Mutter, dass Beer möglichst seinen eigenen Weg gehen wollte. Jede elterliche Hilfe und Fürsorge lehnte er ganz bewusst ab: »Nein, lasst mich nur machen«, sagte er dann. Oder: »Ich helf mir am besten selber.«
Als Bennie und Goof fort waren und Beer sich todmüde, aber doch zufrieden hinlegen wollte, blieben Vater und Mutter – wenn auch nur mit Mühe – im Zimmer zurück.
»Wir kommen gleich noch mal kurz nach oben«, klang es ruhig, doch Annemiek wurde nachdrücklich zu verstehen gegeben, sie solle Beer folgen und ein Auge auf ihn haben.
Die meisten Kinder leben in einer wunderbar weiten, inneren Welt, von der meist nur ein kleiner Teil sichtbar wird. Sie sehen, wissen und spüren unendlich viel mehr, als ihre Umgebung vermutet. So auch Annemiek. Sie plapperte über alles und nichts und folgte Beer die Treppe hinauf. Indessenspürte sie ganz genau, was sich im Inneren ihres Bruders abspielte.
»War ein schöner Tag, heh?«
»Ja.«
»Fein, dass du wieder zu Hause bist.«
»Na und ob!«
Kurze, unbedeutende Sätze, doch unterdessen legte Annemiek den Pyjama griffbereit aufs Bett. Sie achtete auch sorgfältig darauf, dass Beer sich nicht stieß oder über den Stuhl stolperte. Und dank ihrer Hilfe kamen der Waschlappen, die Zahnbürste und das Handtuch wie von selbst in Beers Hände. Noch nie hatte sie sich so eng mit Beer verbunden gefühlt. War das der Grund, weshalb das Gespräch allmählich ernster wurde?
Zögernd, wie meist zwischen Bruder und kleiner Schwester, fragte Beer: »Wie waren Vater und Mutter, als ich im
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