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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaap Ter Haar
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konnte Beer nicht sehen, aber plötzlich nahmen sie ihn bei der Hand und brachten ihn piekfein über die Straße, wobei sie ihn auf jede kleine Unebenheit aufmerksam machten. Erst als er die eigene Gartentür passierte – die durch die überhängende Konifere leicht zu finden war –, kam Mutter ihm entgegen.
    »Ich wollte dich gerade holen gehen«, sagte sie und es tat Beer wohl, dass ihre Stimme jetzt entspannt klang. Offenbar hatte sie sich keinen Augenblick beunruhigt.
    »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Beer. Künftig würde er etwas besser auf den Glockenschlag der Turmuhr achten müssen.
    »Gleich halb eins«, sagte Mutter. »Ich möchtenicht zu spät essen; der Doktor kommt noch vorbei und das könnte am frühen Nachmittag sein. Warst du schön spazieren?«
    »Ja«, antwortete Beer, »es war prima!« Und einigermaßen stolz setzte er hinzu: »Ich war bis zur Bank im Park.«
    »So weit?«
    Mutters Stimme klang höchst erstaunt, denn im Interesse ihres Kindes durfte sie schon ein bisschen Komödie spielen.
    Beer schob das Blindenschrift-Alphabet beiseite. Dank Mutters Hilfe konnte er schon eine große Zahl von Buchstaben auf den Bildschirm seiner Vorstellung projizieren. Dankbar dachte er an Louis Braille, den blinden Franzosen, der vor anderthalb Jahrhunderten blinden Menschen das Lesen, Schreiben und Rechnen ermöglicht hatte, indem er die später nach ihm benannte Blindenschrift erfand. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Beer es als großes Vorrecht, dass er so gut lernen konnte und ein einwandfreies Gedächtnis besaß. Es war bloß zum Verzweifeln, dass die Fingerspitzen noch immer einen Kurzschluss zwischen dem Papier und dem Gehirn verursachten. War das eine Sache der Übung und Geduld?
    Der Doktor war immer noch nicht gekommen. War es schon nach drei? Halb vier? Es wurde allmählich langweilig, Mutter immer wieder nach der Uhrzeit zu fragen. Ob es Braille-Uhren gab?
    Beer schob seinen Stuhl zurück, stand auf undging zur Tür. Er stieß mit der Hand gegen das Waschbecken und blieb einer plötzlichen Regung folgend stehen. Er stand jetzt vor dem Spiegel und beugte sich etwas vor. In Gedanken sah er sein Gesicht, wie es früher ausgesehen hatte. Später hatte er den dicken Verband um den Kopf bekommen und er konnte sich vorstellen, wie er da ausgesehen hatte. Und jetzt trug er den Verband mit den Pflastern. Was würde wohl zum Vorschein kommen, wenn der Verband heute vielleicht abgenommen wurde?
    Reglos stand Beer vor dem Spiegel. Er versuchte sich vorzustellen, wie er von jetzt an aussehen würde. Seine Augenhöhlen sah er als dunkle Löcher. Würden sie sich mit missgestalteten, überhängenden Augenlidern füllen, unter deren Rändern noch ein schmaler weißer Streifen seiner Augäpfel zu sehen wäre?
    »Mein Gott.« Wieder überfiel ihn die Angst, dass er fortan hässlich aussehen würde. Dass er die Menschen abschreckte. Und vor allem: dass ihn nie ein Mädchen ansehen würde. Wäre das nicht das Schlimmste von allem?
    Natürlich, er könnte eine dunkle Brille tragen. Aber eine dunkle Brille, dazu der weiße Stock, würden ihn immer an den blinden Mann erinnern, den er in der engen Ladenstraße sich so hilflos hatte vorwärtstasten sehen.
    »Lass kein Wrack aus dir machen«, hatte der Student gesagt. Der Student. Als Beer jetzt an ihn denken musste, schämte er sich ein bisschen. Was waren hässliche Augenlider gegen das Warten auf den Tod?
    »Tja«, murmelte Beer seufzend. Was auch kommen würde, er musste es ja doch auf sich nehmen. Einen anderen Weg gab es nicht.
    Die Haustür ging auf und schlug wieder zu.
    »Er ist oben. Kommen Sie mit?« Mutters Stimme, dann schwere Schritte im Korridor. Der Doktor war gekommen. Beer unterdrückte ein Frösteln. In wenigen Minuten würde der Verband gelöst werden, und was zum Vorschein käme, würde für immer bleiben. Und »immer« war verdammt lang.
    Schritte auf der Treppe. Gepolter auf dem Treppenabsatz und Mutters flüsternde Stimme. Die Zimmertür ging auf.
    »Hallo, Beer!«
    »Guten Tag, Herr Doktor.«
    »Du siehst gut aus. Wieder ’n bisschen Farbe im Gesicht.«
    »Kann der Verband heute ab?«
    »Wir werden mal sehen.«
    Die Tasche wurde auf den Tisch gestellt. Der Doktor drehte den Wasserhahn auf und wusch sich die Hände.
    »Ich hol mal eben ein sauberes Handtuch.« Mutter verließ das Zimmer und kam wieder zurück: »Bitte.«
    »Danke.«
    Beer schluckte. Jetzt musste es geschehen. Der Doktor öffnete seine Tasche. Ein paar Sachen wurden

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