Behalt das Leben lieb
sollen wir diese Hilfe herkriegen?«, fragte Vater dann.
»Oh, die müsste doch zu finden sein.«
»Und wovon bezahlen wir diese Hilfe?«
»Dafür gibt’s doch wohl Fonds?«
Was sollte man mit solch einem Gespräch anfangen? Ein Vetter von Mutter, der mehr oder weniger zufällig vorbeikam, hatte auch gleich seine Meinung zur Hand: »Ich würde ihn wie ein ganz und gar normales Kind behandeln. Das scheint mir das Vernünftigste zu sein.«
»Aber blind sein ist nicht normal«, sagte die Mutter beinahe verzweifelt. »Wir müssen ihn eben anders behandeln als ein Kind, das sehen kann. Wir können doch keine Forderungen an ihn stellen, die er unmöglich erfüllen kann!«
»Nun ja, wenn ihr Beer nur nicht zu einem Wrack machen lasst in irgendeiner Anstalt.«
Da war Vater böse geworden. Erregt hatte er sich eine Zigarette angesteckt und in scharfem Ton gefragt: »Glaubst du, dass jedes Kind in einer solchen Einrichtung ein Wrack ist? Und weißt du, wie viele Kinder das in Holland sind?«
»Ein paar Hundert?«
»Zwanzigtausend! Zwanzigtausend Kinder, die blind oder taubstumm oder spastisch gelähmt sind. Oder es sind Waisen. Oder die Eltern sind entmündigt. Ja, alles Kinder, die behindert sind. Für die wir bei Sammlungen großherzig Geld geben. Aber wir verstecken sie gut, weil es uns an Barmherzigkeit fehlt, sie voll in unsere Gesellschaft aufzunehmen!«
»Bleib doch ruhig«, beschwichtigte Mutter ihn.
»Und das Schlimmste ist«, fuhr Vater fort, »dass ich bis vor Kurzem nie darüber nachgedacht habe.«
»Ich . . . ich versteh schon, was du meinst«, murmelte der Vetter betreten.
»Entschuldige, dass ich mich aufgeregt habe.« Vater war über seinen Ausbruch selbst erschrocken. Hatte er die Situation nicht mehr in der Hand? War er von den widerstreitenden Ansichten der Freunde und Bekannten durcheinander?
Als er am Abend im Bett lag und die Nachttischlampe angeknipst hatte, nahm Mutter seine Hand: »Thijs«, sagte sie mit brüchiger Stimme, »willst du morgen in der Blindenanstalt einen Termin für uns vereinbaren?«
»Ja«, antwortete Vater leise.
»Vielleicht hat mir anfangs der Mut gefehlt, alles so zu sehen, wie es ist. Ich . . . ich brauche Zeit, um die Wirklichkeit zu akzeptieren. Jetzt bin ich so weit und ich will mich dem fügen, was die Fachleute für das Beste halten.«
Da nahm Vater sie schützend in seine Arme.
Beer ging die Treppe hinunter. Im Korridor blieb er stehen. Er lauschte kurz, ob er irgendwelche Geräusche wahrnehmen konnte. Es war totenstill im Haus.
»Oma?«
Gepolter im Wohnzimmer. Ein Stuhl wurde fortgeschoben. Hastig kam Oma in den Korridor.
»Ja, Beer?«
»Um wie viel Uhr kommt Mutter nach Hause?«
»Auf jeden Fall vor dem Essen. Ist irgendwas?«
»Ich komme mit meiner Arbeit nicht weiter.«
»Kann ich was für dich tun?«
»Nein, nein, danke.« Beer schüttelte den Kopf.Wenn Oma ihm bei der Blindenschrift helfen würde, käme er vom Regen in die Traufe.
»Wohin ist Mutter gegangen?«
»Äh . . . mit Vater zum . . . äh . . . zu einem Empfang. Jemand vom Büro feiert ein Jubiläum«, antwortete Oma unsicher. Diese Notlüge erschien ihr besser, als von der Blindenanstalt zu sprechen.
»Wo ist der Empfang?«
»Äh . . . ich glaube, irgendwo in Bussum.«
»Bussum?«, fragte Beer verwundert.
»Es kann auch irgendwo anders sein«, besann sich Oma und gab dem Gespräch eilig, allzu eilig eine andere Richtung. »Soll ich schnell eine Tasse Tee machen? Oder ist es dir noch zu früh?«
»Ich mach erst noch einen kleinen Spaziergang.«
»Allein?«, fragte Oma unruhig.
»Das mach ich oft.«
»Soll ich nicht lieber mitgehen?«
»Nein, Oma, das brauchst du nicht.«
»Bist du auch vorsichtig?«
»Ja«, sagte Beer seufzend und nahm seinen Stock.
Oma wollte ihm nachgehen, überlegte aber noch, dass Annemiek bald von der Schule zurückkommen würde. Besorgt schaute sie ihrem Enkel nach.
Bussum! Dieser Name wollte Beer nicht aus dem Kopf. Vielleicht, weil Oma so unschlüssig geantwortet hatte. Vielleicht auch, weil er noch nie etwas von jemandem in Bussum gehört hatte.
Beer saß auf der Bank im Park und hatte das unklare Gefühl, dass da in Bussum etwas vor sich ging, und intuitiv wusste er, dass es etwas mit ihm zu tun hatte.
Bussum! Er war schon zweimal in seinem Leben dort gewesen. Das erste Mal zu einem Freundschaftsspiel gegen die Mannschaft vom BFC. Das letzte Mal zu einem Jugendturnier vom SDO. Auf dem Wege zum SDO waren sie mit Omnibussen über die
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