Behalt das Leben lieb
immer mehr zu. Ihre Verwirrung wegen des erblindeten Sohnes wurde von Tag zu Tag größer. Auch das lag zum Teil an den Menschen ihrer Umgebung.
»Wie kommt ihr dazu, auch nur an eine Blindenanstalt zu denken«, rief Oma empört aus. Sie war zum Essen gekommen. Nach Tisch, als Beer und Annemiek nach oben gegangen waren, hatte sie die Zukunft ihres Enkels zur Sprache gebracht.
»Der Junge gehört hierher. Zu euch! Was er jetzt vor allem braucht, ist die Wärme dieses Hauses und eure elterliche Fürsorge.« Beinahe böse ließ Oma ihr Strickzeug sinken.
»Das ist auch meine Meinung«, sagte Mutter. »Aber . . .«
»Nix aber«, schloss Oma. Sie nahm ihr Strickzeug wieder auf, als wäre die Sache damit erledigt.
»So einfach ist das nicht«, antwortete Vatergereizt. »Es gibt Probleme, Mutter, die du gar nicht übersiehst.«
»Was denn für Probleme?«
Vater seufzte. Natürlich meinte Oma es gut mit Beer.
»Nimm nur die Blindenschrift«, sagte er müde. »Wir haben Anleitungen studiert. Wir haben allerlei Lehrmaterial und sogar eine teure Blindenschreibmaschine angeschafft. Aber wir sind Laien. Wir pfuschen und stümpern nur herum. Und es ist sehr die Frage, ob das alles überhaupt einen Sinn hat.«
»Beer spürt hier eure Liebe und hat das Gefühl der Sicherheit.«
»Darum geht es doch gar nicht«, rief Vater ungeduldig. »Es geht darum, dass Beer die Blindenschrift lernt. Und dass ihm in seiner Arbeit so gezielt wie möglich geholfen wird!«
»Da ist er bei euch in den besten Händen«, meinte Oma aufrichtig.
Vater schüttelte den Kopf. Er wollte wieder aufbrausen, hielt sich aber zurück. War er vor einigen Wochen nicht genauso kurzsichtig wie seine Mutter gewesen? Er versuchte es anders: »Weißt du, welchen Umfang ein Roman in Blindenschrift hat?«
»Nein.«
»So an die dreißig dicke Bände. Nun nimm mal an, dass Beer später ein Lexikon braucht. In Blindenschrift – da würden alle Bände nicht mal in dieses Zimmer passen.«
Jetzt sagte Oma nichts. Verwirrung sprach aus ihrem Gesicht. Zum ersten Mal sah sie etwas von der Kluft, die ihr Sohn und ihre Schwiegertochter überbrücken mussten.
»Weißt du«, sagte Mutter und es war zu merken, wie ernst sie die Sache nahm, »es ist nicht so einfach, wie du denkst. Zuerst meinte ich auch: Beer bleibt zu Hause. Wir werden es schon schaffen. Aber es gibt so viele Probleme, die Thijs und ich nicht übersehen. Ich . . . ich weiß nicht mehr, ob ich Beer wegen seiner Blindheit zu sehr behüte und verwöhne oder ob ich nicht viel zu viel von ihm verlange. Dinge, die früher ganz selbstverständlich waren, sind es jetzt nicht mehr. Alles, auch die Erziehung, ist ganz anders geworden.«
»Aber Kind.« Oma war über den Gefühlsausbruch erschrocken.
»Es ist so. Es ist so!«, rief Mutter mit sich beinahe überschlagender Stimme. »Du behandelst Beer jetzt auch ganz anders als früher. Das alte Verhältnis ist gestört. Dadurch verlieren Thijs und ich unser Selbstvertrauen. Manchmal weiß ich einfach nicht weiter.« Mutter brach plötzlich in Schluchzen aus.
Zu allem Überfluss kam jetzt auch noch Beer ins Zimmer. Er hörte das Schluchzen.
»Was ist los?«, fragte er gleich. »Warum weint Mutter? Habt ihr euch gestritten?«
»Nun, äh, siehst du . . .« Oma verlor sich in einer ausweichenden Antwort.
»Ja«, sagte Vater schnell. »Ja, wir hatten ein bisschenStreit und ich habe etwas gesagt, was nicht sehr nett war.«
Beer hörte, wie Vater aufstand und zu Mutter ging. »Tut mir leid«, sagte er in tröstendem Ton. »Beruhige dich doch. Ich hab’s wirklich nicht so gemeint.«
Oma biss sich auf die Lippen. Sie verstand, warum Beers Vater die Schuld an den Tränen auf sich nahm. War es nicht besser, dass seine Mutter wegen irgendeines Streites weinte als über die Blindheit ihres Sohnes? Betrübt blickte Oma zu ihrem Sohn und zu ihrer Schwiegertochter. Dann sah sie zu Beer, der noch immer totenstill im Zimmer stand, und es schien, als sei sie auf einmal ein Stück älter geworden.
Es ist erstaunlich, wie schnell und unüberlegt manche Menschen eine Meinung oder ein Urteil parat haben. Verschiedene Bekannte von Vater und Mutter – nicht die wirklichen Freunde; die wussten es schon besser – hatten für Beer allerlei Ratschläge auf Lager: »Ich würde ihn zu Hause behalten«, äußerte ein gut meinender Nachbar von gegenüber. »Warum soll der Junge jetzt in eine Anstalt? Er kann doch das Gymnasium beenden, wenn er eine gute Hilfe bekommt?«
»Und wo
Weitere Kostenlose Bücher