Behandlungsfehler
denn nun wirklich ein grober Behandlungsfehler vorliegt oder ob das nicht der Fall ist.
Die unterlassene Befunderhebung
Der Bundesgerichtshof hat in den 90er-Jahren die Rechtsfigur der »unterlassenen Befunderhebung« geschaffen. Sie unterläuft zunächst den, oftmals nicht zu einer Haftung führenden, einfachen Diagnoseirrtum, der nur zurückhaltend überhaupt als Behandlungsfehler gewertet wird. Wenn mit einer gebotenen Befunderhebung der Diagnoseirrtum vermeidbar gewesen wäre, so liegt der Schwerpunkt des Vorwurfs darin, dass der Arzt bestimmte Befunde unterlassen hat zu erheben. Aus der unterlassenen Befunderhebung als Behandlungsfehler ergibt sich häufig und leichter
eine Beweislastumkehr, als das bei dem privilegierten Diagnoseirrtum der Fall ist, und das spielt für uns Anwälte zunehmend eine große Rolle.
Bevor der Arzt den Patienten behandeln kann, muss er sich einen Überblick verschaffen: Er muss den Patienten untersuchen, um dann sagen zu können, an welcher Krankheit er leidet. Erst wenn der Arzt sich festlegen und eine Diagnose stellen kann, kann die Behandlung beginnen. Fehler bei der Untersuchung des Patienten auf dem Weg zur Diagnose können dazu führen, dass frühzeitig die Weichen für die Behandlung falsch gestellt werden. Die Folgen für den Patienten können fatal sein.
Ein Herzinfarkt hat typische Symptome und ist kaum zu verkennen, wenn diese vorliegen. Sehr starke Schmerzen im Brustkorb, die in den linken Arm ausstrahlen, ein beschleunigter Puls, kalter Schweiß und Atemnot. Es passieren aber auch Herzinfarkte, die keines dieser typischen Symptome verursachen und sich zum Beispiel nur durch Rücken- und/oder Schulterschmerzen bemerkbar machen. Der Arzt weiß das. Gibt es Verdachtsmomente dafür, dass ein Herzinfarkt Ursache der plötzlich aufgetretenen Rückenschmerzen ist, muss der Arzt durch ein EKG und Blutuntersuchungen abklären, ob ein Herzinfarkt vorliegt oder nicht. Geschieht dies nicht, wird folglich der Herzinfarkt nicht erkannt und bleibt daher unbehandelt, kann das fatale Folgen haben und natürlich letztlich sogar zum Tode führen.
Im Fall des jungen Fußballers, bei dem der Arzt ein Schulter-Arm-Syndrom diagnostizierte, obwohl er einen Herzinfarkt hatte, führt die falsche Diagnose nicht zu einer Haftung. Es waren keine Anhaltspunkte vorhanden, die den Verdacht auf einen Herzinfarkt nahegelegt haben. Aber wenn man dem Arzt vorwerfen kann, dass er erforderliche Untersuchungen nicht durchgeführt und notwendige Befunde nicht erhoben hat – so wie bei dem 65-Jährigen, der ein paar Stunden später mit den gleichen Symptomen in die Klinik kam – ist das ein Behandlungsfehler. Dieser Mann hätte auf einen Herzinfarkt hin untersucht werden müssen. Wurde er aber nicht.
Ausgangspunkt der rechtlichen Beurteilung von Fehlern in diesem frühen und grundlegenden Stadium der Behandlung ist folgende
Überlegung: Hätte der Arzt im Beispiel des 65-Jährigen ein EKG geschrieben, wären darauf die Zeichen des Herzinfarkts deutlich zu erkennen. Auch die Blutuntersuchung hätte unverkennbare Hinweise darauf geliefert. Würde der Arzt diese Befunde falsch auswerten und weiter von einem Schulter-Arm-Syndrom ausgehen, so verstieße er gegen elementare Regeln. Hier keinen groben Behandlungsfehler anzunehmen, ist kaum vorstellbar. Der Arzt muss daher für die Folgen der Fehldiagnose Schadenersatz leisten; nämlich für die Folgen der verspätet eingeleiteten Therapie. Es wird davon ausgegangen, dass die Behandlung des Herzinfarkts bei rechtzeitiger Diagnose optimal verlaufen wäre. Sämtliche Unsicherheiten gehen zu Lasten des Arztes. Das ist wichtig, weil nicht auszuschließen ist, dass der Herzinfarkt bei rechtzeitiger Diagnose die gleichen Folgen gehabt hätte. Es ist nie auszuschließen, dass die Behandlung ungünstig verlaufen wäre. Ohne eine Beweislastumkehr hat der Patient daher große Schwierigkeiten nachzuweisen, dass ihm ein Schaden entstanden ist. Bevor der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zur unterlassenen Befunderhebung entwickelt hat, wurde der Arzt, der die notwendigen Untersuchungen gar nicht erst durchgeführt hat, privilegiert. Dass die Untersuchungen nicht durchgeführt wurden, wurde natürlich als Fehler bewertet, aber alle Unsicherheiten, wie sich die Krankheit bei korrekter Diagnostik und Therapie entwickelt hätte, gingen zu Lasten des Patienten. In vielen dieser Fälle konnte der Patient nur Erfolg haben, wenn ein grober Behandlungsfehler festgestellt wurde.
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