Behandlungsfehler
so schlimm. Mathias Kaden wirkte, als stünde er immer noch unter Schock.
Vielleicht war es auch genau das. Schließlich hatte er nicht viel Zeit, sich an den Gedanken, auf einem Auge blind zu sein, zu gewöhnen. Eigentlich überhaupt keine. Nach einem Abend mit Freunden – sie hatten zusammen gefeiert – sah er nicht mehr richtig. Komische Lichtblitze zuckten vor seinem linken Auge. Doch das hatte ihn nicht weiter beunruhigt, er war müde und ein bisschen angetrunken. Er maß der Sache keine Bedeutung bei. Am Morgen danach kam dann der erste Schock – sein Gesichtsfeld war auf der linken Seite massiv eingeschränkt. Als hätte jemand einen Vorhang direkt neben das Auge gespannt – es war alles schwarz.
Normalerweise hat der Mensch ein Gesichtsfeld von knapp 180 Grad. Bei Mathias Kaden waren es weit weniger. Schon als er das Wort Lichtblitze aussprach, kam mir ein
Verdacht. Denn das ist das klassische Symptom einer Netzhautablösung. Das lernt man schon früh im Studium, das ist Mediziner-Einmaleins. Blitze, Gesichtsfeldeinengung, Rußregen – also kleine rote Flocken, die durch das Gesichtsfeld fliegen – bedeutet: dringender Verdacht auf eine Netzhautablösung. Für den Patienten heißt das: Geh sofort zum Arzt! Für den Arzt: Schau, ob eine Netzhautablösung vorliegt.
Mathias Kaden machte sich folgerichtig auf den Weg ins Krankenhaus. Nach einer kurzen Begutachtung schickte ihn der Augenarzt allerdings auf die neurologische Station. Sein Verdacht: eine Entzündung im Gehirn. Dafür ist der Augenarzt nicht zuständig. Die notwendigen Untersuchungen, um eine Netzhautablösung auszuschließen, hatte der Augenarzt nicht für nötig gehalten. Er war sich seiner Sache, so schien es, sicher. Und die Neurologen dachten auch nicht daran. Schließlich kam er vom Augenarzt. Herrn Kaden wurde erst einmal Kortison durch einen Zugang am rechten Arm verabreicht. Gegen eine Entzündung wirkt das hervorragend. Auch gegen eine im Gehirn, obwohl diese bei Herrn Kaden nicht diagnostiziert worden war, sondern nur vermutet wurde. Bei einer Netzhautablösung könnte man hingegen auch Wasser verschreiben, der heilende Effekt wäre der Gleiche. Wirklich helfen können nur zwei Sachen: entweder eine Laserung oder eine klassische Operation, je nachdem wie weit sich die Netzhaut schon abgelöst hat. Viel Zeit bleibt oftmals nicht. Denn wenn die Netzhaut sich von der Aderhaut abtrennt, wird sie nicht mehr versorgt und stirbt ab. Die Lichtrezeptoren können das Licht nicht mehr aufnehmen. Wenn nicht schnell gehandelt wird, kann das Auge erblinden. Wenn Gewebe erst einmal tot ist, wird es nicht wieder lebendig. Tot ist tot. Das ist nicht mehr rückgängig zu machen. Man muss also dafür sorgen, dass die Netzhaut sich nicht weiter ablöst, sondern mittels eines Eingriffs wieder angelegt wird.
Bei Mathias Kaden verging viel Zeit. Die Neurologen warteten darauf, dass das Kortison anschlug, Mathias Kaden darauf, dass die Gesichtsfeldeinschränkung nachließ. Beides
passierte nicht. Mathias Kaden vertraute den Ärzten im Krankenhaus und harrte geduldig aus, in der Hoffnung, dass die Sehstörungen aufhörten. Stattdessen bekam er neue Probleme. Der Arm, in den die Kortisoninfusion täglich gelaufen war, schwoll an. Die Schwester sah das zwar, aber da sowieso nur noch eine Infusion fehlte, ignorierte sie das Problem und hängte die letzte Dosis auch noch an den Zugang an. Die Infusion landete nicht in der Vene sondern daneben. Die Folge: der Arm wurde dick und rot. Zwei Tage später wurde Mathias Kaden ins Nachbarkrankenhaus verlegt, um den Arm zu behandeln. Mittlerweile war die Entzündung so weit fortgeschritten, dass mehrfach operiert werden musste.
In der chirurgischen Abteilung kümmerte man sich auch um das Auge. Ein Augenarzt wurde gerufen und der stellte die Netzhautablösung fest. Endlich – nach über einer Woche. Es war eine riesige Ablösung in der Mitte der Netzhaut – an der Stelle des schärfsten Sehens. Das Auge wurde operiert. Aber es war nicht mehr zu retten. Herr Kaden blieb blind auf dem Auge. Ob das Auge bei der ersten Untersuchung mittels Laserung zu retten gewesen wäre, wird man nicht sagen können. Auf die Infusionen hätte man aber sicher verzichtet, sodass der entzündete Arm nicht hätte operiert werden müssen. Die Narbe reicht über den ganzen Unterarm, das Gefühl im Arm ist gestört, was für einen Rechtshänder natürlich besonders lästig und störend ist.
Es war für mich sofort klar, dass hier ein
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