Behandlungsfehler
Behandlungsfehler vorlag und ich den Fall übernehmen würde. Und ich wusste, wir würden gewinnen. Alles andere wäre Unrecht. Für Mathias Kaden waren die gesundheitlichen Folgen das kleinere Übel. Viel schlimmer trafen ihn die persönlichen Konsequenzen. Als Feinmechaniker war er auf räumliches Sehen angewiesen. Mit nur einem Auge ist das nicht mehr möglich. Seinen Job musste er aufgeben. Vorher kam die Familie über die Runden – Mathias Kaden verdiente das Geld, seine Frau war zu Hause und pflegte ihre Mutter. Die beiden Töchter gingen zur Schule, das Haus war nicht abbezahlt. Zu
den gesundheitlichen Problemen kamen jetzt also auch noch finanzielle. Mathias Kaden musste mit Mitte 40 noch einmal von vorn anfangen.
Juristisch gesehen war es für mich ein klarer Fall. Allerdings war er trotzdem nicht ganz einfach. Die Kortisoninfusion und die sich anschließenden Operationen und deren Folgen gingen auf einen Behandlungsfehler zurück und begründeten den Anspruch. Die Kortisoninfusion hätte in den schmerzhaften Arm nicht infundiert werden dürfen. Das ist aber nur geschehen, weil der Arzt die Netzhautablösung nicht erkannt hat und im Verlauf, trotz bleibender und sich verschlechternder Symptomatik, keine Kontrolle erfolgt ist. Der Teil, der Schaden durch das Kortison, war also zweitrangig. Erstrangig war die Erblindung des betroffenen Auges. Doch wie sollte ich beweisen, dass eine Operation oder Laserung das Erblinden verhindert hätte?
Wenn sich die Netzhaut ablöst, kann das relativ schnell massive Schäden hervorrufen. Und auch wenn man zügig therapiert, wird zwar manchmal der Sehverlust gestoppt oder das Sehvermögen verbessert, aber manchmal kann das Auge dennoch erblinden. Ich hätte nachweisen müssen, dass durch eine rechtzeitige Operation Mathias Kaden seine Sehfähigkeit definitiv nicht verloren hätte. Das war unmöglich – ungefähr so, als würden sie bei einer Infektion kein Antibiotikum verordnen. Das mag ein Fehler sein, es ist jedoch nicht sicher, ob man mit einem Antibiotikum die Infektion in den Griff bekommen hätte. Den Fehler als einen einfachen Behandlungsfehler zu werten, reichte deshalb nicht, um diesen Fall zu gewinnen. Ich musste nachweisen, dass es sich um einen groben Behandlungsfehler handelte. Durch die dem groben Behandlungsfehler folgende Beweislastumkehr müsste der Arzt beweisen, dass der Patient auch mit einer Operation erblindet wäre, was ihm nicht gelänge, denn viele dieser Operationen sind erfolgreich. Andernfalls könnte man auf eine Laser- oder operative Intervention komplett verzichten – und das ist natürlich Unsinn.
Aus der Fachliteratur, aber auch aus anderen Verfahren weiß ich, dass die Gutachter bei einer Netzhautablösung klar definierte Regeln an das ärztliche Handeln aufstellen. Lichtblitze sind als Symptomatik der Netzhautablösung klassisch, sodass eine engmaschige Kontrolle zu erfolgen hat. Selbst wenn der Arzt vermutet, dass eine Hirnentzündung vorliegt, muss er trotzdem zunächst diagnostisch eine Netzhautablösung ausschließen. Das heißt: Ultraschalluntersuchung, Pupillenerweiterung, er muss mit einer Lupe arbeiten und er muss untersuchen, ob das Gesichtsfeld eingeschränkt ist. Das hatte der Arzt alles nicht gemacht.
Im Arzthaftungsrecht kommt der unterlassenen Befunderhebung, wie bereits beschrieben, eine ganz besondere Bedeutung zu.
Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder stellt sich das Unterlassen selbst als grob behandlungsfehlerhaft dar, zum Beispiel wenn der Arzt nach einem Sturz auf den Kopf mit Übelkeit, Schwindel und Bewusstlosigkeit nicht röntgt. Oder man geht fiktiv davon aus, dass, wenn der Befund erhoben worden wäre, man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Dinge festgestellt hätte, auf die der Arzt unbedingt hätte reagieren müssen.
Wenn der Patient, nachdem ihm eine neue Hüfte eingesetzt wurde, unter zunehmenden Beschwerden klagt, müssen weitere Untersuchungen gemacht, Blut- und Laborwerte abgenommen werden. Wenn das unterbleibt und sich später herausstellt, dass das gesamte Operationsgebiet vereitert ist – ein Mandant von mir hatte in einem derartigen Fall immerhin 2,5 Liter Eiter im Oberschenkel – so ist davon auszugehen, dass die Entzündungsparameter im Labor deutlich erhöht gewesen wären. Darauf nicht zu reagieren, wäre völlig unverständlich gewesen und das hätte auch keiner gemacht. In diesem Fall folgte eine Beweislastumkehr und das ist auch gut so, da wir nicht hätten nachweisen können,
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