Behandlungsfehler
von Quirndorf war arbeitslos, sie hatte kaum Geld. Aber wir hatten die Möglichkeit für sie einen Berechtigungsschein für meine außergerichtliche Tätigkeit zu beantragen, was wir auch taten. Ich ließ mir die Behandlungsakten kommen.
Anna von Quirndorfs Behandlungsunterlagen stapelten sich bald auf meinem Schreibtisch. Ich versuchte mir ein Bild zu machen. Was war passiert? Ich entdeckte, dass die Ärztin den Muttermund mit einem Medikament eingepinselt hatte, mit dem normalerweise Warzen behandelt werden. Was um Himmels Willen hat ein Warzenmittel auf dem Muttermund zu suchen? Durch meine medizinische Ausbildung kenne ich mich ein bisschen aus in der Medizin, auch die gynäkologische
Vorsorge ist mir nicht fremd. Das Medikament kannte ich, es wird im äußeren Genitalbereich angewendet. Davon, dass es auch im inneren Genitalbereich eingesetzt wird, hatte ich noch nie gehört.
Der Gebärmutterhals ist der Kanal, der die Scheide mit der Gebärmutter verbindet. Er besteht aus Haut- und Drüsengewebe und mündet im Gebärmuttermund. Dieser hat eine andere Oberfläche: Er ist von einer dicken Schleimhaut umgeben. Die Grenzzone, wo Drüsengewebe und Schleimhaut aufeinanderstoßen, ist besonders anfällig für Wucherungen. Sie verändert sich mit dem Alter, die Hormone spielen dabei eine Rolle, kurz: Das ist der Bereich, den eine Frauenärztin immer besonders gut im Blick hat.
So auch der Gynäkologe, den Frau von Quirndorf zuerst besucht hatte. Er hatte eine mäßige bis schwere Dysplasie festgestellt: Plasie heißt »Wachstum«, Dysplasie bedeutet »ungeordnetes Wachstum«, und das, was da so ungeordnet wuchs, hatte er mit einem Laser oder einem Skalpell wegschneiden wollen. Dabei ist Dysplasie nicht gleich Krebs, die Zellen wachsen nicht in die Tiefe. Sie kann aber eine Vorstufe von Krebs sein und sich zu einem Karzinom entwickeln. Das tut sie nicht immer, aber doch häufiger. Schneidet man das Gewebe weg, ist in mehr als 98 Prozent aller Fälle das Problem gelöst und kommt auch nicht wieder.
Für die Operation hätte Frau von Quirndorf ins Krankenhaus gemusst, mit Vollnarkose. Der Eingriff wäre durch die Scheide durchgeführt worden. Nach ein, zwei Tagen wäre sie entlassen worden. Vielleicht hätte sie noch einmal geblutet, nachdem der Wundschorf abgegangen wäre. Aber das Risiko, dass nach der Operation der Gebärmutterhals verkleben oder ein schwacher Gebärmutterhals während der Schwangerschaft Probleme machen würde, wäre gering gewesen.
Das Warzenmittel arbeitet anders. Man trägt es auf die Warze auf, um die Zellen absterben zu lassen. Da der Gebärmutterhals bei Frau von Quindorf mit diesem Mittel eingepinselt worden war, starben auch dort die Zellen ab. Ich las
den Beipackzettel, suchte in der Literatur und im Internet, aber ich fand keine Hinweise darauf, dass dies ein gängiges Verfahren sein könnte. Ich besprach den Fall mit einigen beratenden und auch befreundeten Gynäkologen. Die schüttelten nur den Kopf. Von einer solchen Therapie hatten sie noch nie gehört. Und sie vermuteten schwerwiegende Folgen, nämlich dass, wenn die Oberfläche des Muttermundes derart verätzt ist, der Abstrich nicht mehr taugt um Dysplasien nachzuweisen. Tatsächlich ging das aus der Krankenakte von Anna von Quirndorf hervor. Denn bei dem nächsten Abstrich war kein Pap IV mehr gefunden worden, vielmehr ein Normbefund. Aber die Dysplasie, die war noch da, die saß in der Tiefe. Und die Zellen hatten Zeit, sich zum Krebs zu entwickeln. Da war ich mir sicher.
Ich suchte weiter. Konnte es sein, dass man dieses Medikament auch anders einsetzen konnte, als auf dem Beipackzettel vermerkt? In der Medizin gibt es das häufiger. Wir sprechen vom sogenannten Off-Label-Use. Manche Medikamente können mehr als das, wofür sie zugelassen sind. Das hängt damit zusammen, dass es lange dauert und viel Geld kostet, bis ein neues Medikament verkauft werden darf. Jedes Medikament muss gründlich getestet werden. Das soll verhindern, dass sich ein Fall wie der Contergan-Skandal wiederholt.
Contergan kam 1957 auf den Markt und war als Schlafmittel schnell beliebt, denn es beruhigte die Nerven. Insbesondere viele Schwangere nahmen es, da es ihnen gegen morgendliche Übelkeit half. Ein paar Monate später stieg die Zahl der Neugeborenen, die mit fehlenden Gliedmaßen, sogenannten Aplasien, zur Welt kamen, überraschend an. Es dauerte aber fast vier Jahre, bis endlich der Zusammenhang zwischen Contergan und den Missbildungen klar
Weitere Kostenlose Bücher