Behandlungsfehler
Wieder verging Zeit.
Man sollte denken: Wenn ein Gutachter zu einem Auftrag Ja gesagt hat, muss er ihn auch ausführen. Doch die meisten Gutachter lassen die Sache erst einmal liegen. Sie wollen Patienten versorgen und keinen Papierkram erledigen. Ich habe solche Formalien als Ärztin auch immer gehasst. Innerhalb des laufenden Klinikbetriebs ist keine Zeit, sich mit den Akten zu befassen, also muss man sich abends hinsetzen. Und da hätte man gern auch einmal Feierabend. So schieben die Gutachter die Sache immer weiter vor sich her.
Das Gericht hatte eine Frist von sechs Monaten gesetzt. Nach sieben Monaten schickte es eine Mahnung und drohte eine Ordnungsstrafe an. Doch auch das half nichts. Das Ordnungsgeld wurde verhängt, der Gutachter zahlte die 1000 Euro und auf das Gutachten mussten wir weiter warten. Derweil tickte für meine Mandantin die Uhr. Nach einem Jahr bekamen wir das Gutachten zugestellt. Auf den ersten Blick war klar: Der Sachverständige hatte die Aufgabe verfehlt. Er hatte lediglich ein zweites Mal festgestellt, dass das Warzenmittel zur Krebstherapie nicht taugte, aber nicht, welche Folgen dessen fehlerhafte Verwendung haben konnte. Welcher Schaden dadurch entstanden war. Die Fragen, die das Gericht an ihn gestellt hatte, hatte er nicht beantwortet. Wir waren also nicht weiter als zwölf Monate zuvor. Er bekam den Auftrag zurück, und eine Frist, die er wieder nicht einhielt.
Neun Monate später schrieb er: Das Mittel sei für diese Anwendung nie getestet worden. Er verwies auf allgemeine
Ausführungen. Es sei sehr wahrscheinlich, dass sich die damit behandelten Abstriche nicht wie unbehandelte verhalten würden. Welche Abnormität zu beobachten sei und über welche Zeit hinweg, darüber könne er nur spekulieren.
Wir konnten damit nicht beweisen, dass Frau von Quirndorf höchst wahrscheinlich durch den Fehler, das Bepinseln mit dem Warzenmittel, ein Schaden, die falsch negative Befunderhebung der Abstriche und die Entwicklung des Krebs entstanden war. Und eine Einstufung »mit höchster Wahrscheinlichkeit« wäre notwendig gewesen, um vor Gericht eine Chance zu haben. In der Kette Behandlungsfehler – Schaden – Kausalität fehlte uns ein entscheidendes Glied. Wir mussten anders argumentieren: Wenn es gelang, das Einpinseln mit dem Warzenmittel als »groben Behandlungsfehler« zu werten, würde sich die Beweislast hinsichtlich der Kausalität umkehren, obwohl der Schaden noch fraglich war. Die Gynäkologin müsste dann nachweisen, dass das Einpinseln keinen Einfluss auf die Abstriche und damit auf die Krebsvorsorge hatte. Was sie aufgrund der Aussage des Gutachters nicht könnte. Die Beweislast wäre zum Teil von unseren Schultern genommen. Denn bei einem Off-Label-Use liegt ein höherer Sorgfaltsmaßstab zugrunde als üblich, da das Mittel nicht für diese Anwendung getestet worden ist. Es war Grauland, auf dem wir uns befanden.
Eines Morgens war es endlich so weit. Ich lief die breite steinerne Treppe zu dem Landgericht hoch und ging durch die imposanten, hallenden Gänge zum Gerichtssaal. Dort war ich mit Frau von Quirndorf verabredet, wir wollten uns eine Stunde vor der Verhandlung treffen und manches noch einmal durchgehen. Ich erkannte sie kaum wieder. Zwei Jahre hatten wir uns nun nicht gesehen und nur schriftlich verkehrt, gelegentlich telefoniert. Die meiste Zeit hatten wir gewartet. Sie war schmal geworden. Sie berichtete, dass sich in ihrer Leber Metastasen gebildet hatten. Die Ärzte versuchten, den Krebs mit Chemotherapie in den Griff zu bekommen. Aber sie spürte, dass bei ihr alles immer einen Schritt zu spät kam.
Für Frau von Quirndorf war die Zeit im Gerichtssaal die reinste Qual. Da saß die Ärztin, der sie einst so sehr vertraut hatte, und ließ durch ihren Anwalt immer wieder betonen, keinen Fehler gemacht zu haben. Sie entschuldigte sich nicht bei ihr. Sie fragte nicht, wie es Frau von Quirndorf heute ging. Sie war so distanziert, dass es wehtat. Frau von Quirndof versuchte, ihre Gefühle in Zaum zu halten. Manchmal weinte sie leise. Sie fühlte sich hilflos und ausgeliefert, aber sie wollte da durch. Sie wollte verhindern, dass andere Frauen Ähnliches erleiden. Das allein gab ihr die Kraft, diesen langwierigen und schwierigen Prozess durchzustehen.
Das Gericht schloss sich unseren Überlegungen an. Es schlug einen Vergleich vor. Wir waren geneigt, ihn anzunehmen. Aber der Gegner lehnte ab. Frau von Quirndorf habe von dem Behandlungsversuch gewusst, sagte der
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