Behandlungsfehler
Gründen, sondern auch aus familiären. Daher beschloss sie, eine zweite Meinung einzuholen.
Sie entschied sich für die Frauenärztin, von der ihre Freundin geschwärmt hatte. Eine Frau, dachte sie, wäre sicher nicht schlecht, die würde ihre Ängste sicherlich verstehen können. Sie rief die Freundin an, um nach der Telefonnummer zu fragen. Die Freundin redete ihr ebenfalls gut zu, eine zweite Meinung einzuholen. Sie erzählte von ihrer Oma, die an der Hüfte hatte operiert werden sollen, aber nun schon seit Jahren auch ohne Operation wieder laufen konnte. Für die Oma sei der Arztwechsel die beste Therapie gewesen.
Frau von Quirndorf machte also einen Termin aus. Sie berichtete der Gynäkologin von den Befunden und davon, dass ihr Frauenarzt gleich habe operieren wollen. Ob das denn sein müsse, wollte sie wissen. Die Antwort war eindeutig: »Das bekommen wir auch anders hin.« Die Ärztin nahm einen Abstrich. Dabei fand sie auch Viren vom Typ 16/18, die auf Feigwarzen hindeuten und Vorboten von Krebs sein können. Heutzutage raten die Ärzte jungen Mädchen zur Impfung
gegen solche Viren. Statt zu operieren bepinselte die Ärztin den Muttermund. Womit, konnte Frau von Quirndorf nicht sagen. Diese Behandlung sollte eine Weile alle zwei Wochen wiederholt werden.
Sie war glücklich. Keine Operation, kein Wort mehr von Krebs. Am Abend stieß sie mit ihrem Freund mit Prosecco an. Sie ging regelmäßig in die Praxis, um den Muttermund dort von der Ärztin bepinseln zu lassen. Bald war die Sache vergessen. Ungewöhnlich war nur, dass sie im Verlauf fast jedes Mals, wenn sie Geschlechtsverkehr hatte, Blutungen bekam. Aber die Ärztin schien das nicht zu beunruhigen. Der Wunsch nach einem Kind könne durchaus zu Hormonschwankungen und damit zu Blutungen führen, sagte die Ärztin zu ihr. Sie sei eine junge und gesunde Frau und müsse sich darüber keine Gedanken machen.
Drei Jahre später kam der Schock. Gebärmutterhalskrebs. Frau von Quirndorf war in eine andere Stadt gezogen und hatte sich dort eine neue Frauenärztin gesucht. Deren Diagnose war eindeutig und sie war entsetzt, dass keine Konisation gemacht worden war. Die neue Ärztin war auch entsetzt, dass ihre Vorgängerin nicht auf die Blutungen reagiert hatte. Womit diese denn den Muttermund eingepinselt hätte? Frau von Quirndorf zuckte mit den Schultern.
Sie tat mir leid. Wohl nie hat mich das Schicksal einer Mandantin so berührt. Hätte sie auf ihren ersten Gynäkologen gehört, wäre heute sicherlich alles in Ordnung. Vermutlich hätte sie geheiratet und Kinder bekommen und ihr weiteres Leben wäre so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Stattdessen war sie nun schwer krank, ihr Freund, der unbedingt Kinder wollte, hatte sie verlassen, ihr Studium hatte sie zwar zu Ende gebracht, aber sie konnte nicht arbeiten, weil die Chemotherapie ihren Körper und auch ihren Kopf massiv beeinträchtigte. Ihr Zustand ließ das nicht zu.
Sie sah mich resigniert an. Sie erzählte, dass sie das Ganze besonders mitnahm, weil sie es eigentlich besser gewusst hatte. Zu den ganz festen Grundsätzen in ihrem Leben hatte
gehört, die Krebsvorsorge ernst zu nehme n. Eine Bekannte aus ihrem Heimatort war an Brustkrebs gestorben. Anna von Quirndorf hatte erfahren, dass diese Frau die Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig vor sich hergeschoben hatte. Immer war irgendetwas gewesen, das wichtiger war, als zum Arzt zu gehen – auch dann noch, als sie längst schon den Verdacht hatte, dass nicht alles in Ordnung war. Sie konnte den Knoten bereits deutlich fühlen, man sah ihn sogar schon mit eigenen Augen, als sie endlich zum Arzt ging. Es wurde ein großes Mamma-Karzinom auf dem Ultraschallbild gesehen, die Lymphknoten in den Achselhöhlen waren schon von Metastasen befallen – und die sofort begonnene Therapie kam zu spät. Als die Bekannte starb, hatte Frau von Quirndorf sich geschworen, regelmäßig zur Vorsorge zu gehen. Und nun das. In ihren Kummer mischten sich ihre Ängste, die Verzweiflung über die Situation, in die sie sich durch eine falsche Entscheidung manövriert hatte und die Enttäuschung über das Versagen der Ärztin, der sie vertraut hatte. Sie fühlte sich ohnmächtig und sah eigentlich keinen Weg, an ihrer Lage noch irgendetwas zu ändern. »Das bringt doch eh nichts«, hatte sie immer wieder gesagt. Trotzdem war sie zu mir gekommen. Ich spürte ihren Schmerz. Mein Impuls, ihr zu helfen, war stärker als die Widerstände, die absehbar waren – Frau
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