Behandlungsfehler
musste, was ich als unglaublich privilegiert empfand. Vielmehr stellte meine Arbeit aus meiner Sicht eine Kür dar – eine Kür, die mit schlechtem Gewissen einherging, wenn ich diese weiter betrieb. Ich war tief gespalten – ein Leben als Hausfrau und Mutter konnte ich mir genauso wenig vorstellen, wie weiterhin als Ärztin ehrgeizig zu arbeiten. Was also tun?
In dieser Zeit las ich eine Anzeige in einer medizinischen Fachzeitschrift, angekündigt wurde ein Seminar im Bereich der forensischen Psychiatrie. Da ich mir unter diesem Begriff wenig vorstellen konnte – inzwischen weiß ich, dass es im Wesentlichen um das Begutachten, Behandeln und Unterbringen von psychisch kranken Straftätern geht –, war ich neugierig. Ich meldete mich an und ahnte noch nicht einmal im Ansatz, was sich daraus entwickeln würde. Dieses Seminar besuchten ausschließlich Juristen: Jurastudenten, Rechtsanwälte und Richter. Und ich, die Ärztin, war allein auf weiter Flur. Erst heute, während des Schreibens, frage ich mich, warum diese Anzeige eigentlich in einem Ärzteblatt veröffentlicht worden ist und warum ausgerechnet ich darüber gestolpert bin.
Ist es Schicksal gewesen? Ich glaube, dass jedes Leben sich schicksalhaft gestaltet. Die Dinge, die passieren, haben einen Grund und es wird alles gut, auch wenn es viele Gründe gab, die mich an dieser Grundeinstellung im Laufe der Jahre haben zweifeln lassen. Letztlich halte ich die Fahne weiterhin
oben und hoffe, dass mich diese positive Einstellung, das alles einem höheren Plan folgt und daher seinen Sinn hat, trotz allem, was mir im Leben begegnet, nie verlassen wird. Und dieses Seminar hatte eben den Sinn, mir eine neue Perspektive zu eröffnen. Es begeisterte mich für eine ganz andere Art zu denken.
Ich fasste einen folgenschweren Entschluss: Ich wollte Rechtswissenschaft studieren und die Medizin aus der Sicht des Juristen betrachten. Aufgrund meines Gerechtigkeitssinnes war klar, dass ich dies als Anwältin tun würde. Und so schrieb ich mich an der juristischen Fakultät der Universität ein. Zu studieren, solange meine Tochter klein war, erschien mir machbar. Ich konnte mir meine Zeit freier einteilen, als das in einem Krankenhausbetrieb möglich war. Als Ärztin arbeitete ich nur noch sporadisch. Ein neuer Abschnitt in meinem Leben begann. Er führte mich aus der Klinik in den Gerichtssaal und ich habe ihn bis heute nicht bereut.
Wenn nichts mehr ist, wie es war
Im Aufklärungsgespräch muss der Arzt auch über Alternativen informieren
J e tiefer ich in das Jurastudium eintauchte, desto mehr gefiel mir die Art, wie Juristen denken. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von der des Arztes. Der Arzt handelt und denkt individuell, der Jurist versucht zu abstrahieren. Der Jurist begreift die Behandlung als Fall und verallgemeinert nach bestimmten Kriterien, um herauszufinden, ob rechtlich alles korrekt abgelaufen ist. Den Ärzten fällt es oft schwer, dieses Abstrahieren nachzuvollziehen. Sie sehen bei aller Kritik weniger das Allgemeine als vielmehr den einzelnen Patienten, der da vor ihnen sitzt, und dem sie – ganz individuell auf diesen Einzelfall bezogen – versuchen zu helfen. Sie sind bemüht, für diesen Patienten das beste Ergebnis zu erzielen. Ärzte denken in Wahrscheinlichkeiten. Wenn sie hören, dass ein Patient Schmerzen im rechten Unterbauch hat, denken sie: Meistens deutet das auf eine Blinddarmentzündung hin.
Die Juristen hingegen denken abstrakt. Sie klammern das Individuum möglichst aus und stellen Rechtssätze auf, die für jeden gelten, sodass gerade der Einzelfall meist nur höchst spärlich berücksichtigt wird. Es ist, als wenn zwei Welten aufeinander prallen. Ich begriff: Die Sprache und Denkweise von Medizinern und Juristen sind so unterschiedlich, dass es Übersetzer braucht, die zwischen diesen Welten vermitteln. Heute sage ich oft: Das Jurastudium war meine Facharztausbildung.
Ich lernte dabei, die Medizin in den Kategorien des Rechts zu denken.
Der Fall von Klaus-Michael Schröder hat mir jedoch gezeigt, wie leicht man dabei Fehlannahmen unterliegt. Denn bei ihm vermisste ich gerade die individuelle Medizin. Bei ihm wurde schematisch vorgegangen und dann hat der Arzt auch noch das falsche Schema angewendet.
Es begann damit, dass Herr Schröder häufiger Durchfall hatte und Schleimabgänge bemerkte. Nun reden die Menschen sehr ungern über Stuhlgangprobleme und anale Leiden. Wie sehr es sie aber bewegt, zeigen unsere Erfahrungen als
Weitere Kostenlose Bücher