Behandlungsfehler
Anwalt immer wieder. Und krank geworden wäre sie auch so. Wir verhandelten wie auf einem türkischen Basar. Ich war mir sicher, dass wir den Prozess gewinnen konnten. Aber es war auch absehbar, dass die gegnerische Seite Berufung einlegen und damit das Spiel von vorne beginnen würde.
Als Juristin hätte mich interessiert, in die zweite und vielleicht sogar in die dritte Instanz zu gehen und diese Geschichte ausurteilen zu lassen – beim Bundesgerichtshof gab es noch keine Rechtssprechung zu einem vergleichbaren Fall. Aber meiner Mandantin hätte das gar nichts genützt. Es gibt Mandanten, denen es ums Gewinnen geht. Die wollen ein volles Urteil. Aber bei Frau von Quirndorf wäre so ein juristischer Spieltrieb nicht zielführend gewesen. Sie sollte den Ausgang des Verfahrens noch erleben.
In meinem Kopf kreisten die Gedanken bald nur noch um die eine große Frage: Wie konnten wir es schaffen, diesem unwürdigen Spiel ein Ende zu machen? Welche Zugeständnisse konnten wir machen, damit Frau von Quirndof mit einem tragfähigen Gefühl von Gerechtigkeit den Saal verlassen konnte? Ich bat um einen Verkündungstermin, der mir Zeit ließ, mich mit dem gegnerischen Rechtsanwalt in Verbindung
zu setzen. Solche Gespräche sind ein bisschen wie beim Poker. Man täuscht und blufft, aber alles ganz sachlich. Man wägt die Argumente ab, die Risiken. Und am Ende einigt man sich auf eine Abfindung. Dieser Vergleich wird protokolliert und das Geld wird ausgezahlt. Es gelang uns einen akzeptablen Vergleich zu schließen. Nach knapp fünf Jahren war das Verfahren zu Ende.
Kürzlich habe ich Frau von Quirndorf einmal wieder getroffen. Ich fragte sie, welche Wünsche sie sich von dem Geld nun erfüllen wolle. Sie erklärte, ihre Träume hätten sie verlassen. Alles, was sie sich jemals gewünscht hätte, wäre unmöglich geworden. Und immer, wenn ein Traum aus den Tiefen des Vergessens wieder auftauche und sie mit dem Gedanken spiele, ihn zu leben, wüsste sie doch, dass die Chemotherapie, die Nebenwirkungen, ihr Zustand sie daran hinderten. Als sie fünf Jahre zuvor zu mir kam, hätten ihr das Schmerzensgeld und der Schadensersatz noch genützt. Jetzt sei es dafür zu spät. Da begriff ich einmal mehr, dass die Lösungen, die wir mit dem Arzthaftungsrecht erzielen können, nur ganz selten das Gefühl von Recht und Unrecht, schwarz und weiß, gut und böse widerspiegeln. Im besten Fall sind sie sachgerecht. Im schlechtesten nicht einmal das.
Von der Ärztin zur Anwältin
Manchmal ist es gut, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein
I ch habe mich oft gefragt, warum mich das Schicksal von Frau von Quirndorf so berührt hat. Ich denke, es hat auch damit zu tun, dass unsere Leben hätten parallel verlaufen können. Wir waren beide jung, verliebt und wünschten uns eine Familie. Und dann ging bei Frau von Quirndorf alles in die Brüche, während das Schicksal es so gut mit mir meinte. Wohl nie habe ich so heftig gespürt, wie schnell sich das Blatt wenden kann, wenn die Gesundheit ruiniert ist.
Anders als Frau von Quirndorf hatte ich mich in meinen Jugendträumen in der Rolle einer ungebundenen Frau gesehen – wie geschaffen für eine Tätigkeit an der Universität. Das änderte sich, als ich meinen späteren Ehemann kennengelernt hatte. Da passte dieser alte Traum plötzlich nicht mehr in meine Lebenswirklichkeit. Ich war sicher, dass er der Mann meines Lebens ist und den wollte ich auf keinen Fall wieder loslassen. Wir heirateten.
Mein Ehemann und ich arbeiteten sehr viel und hegten und pflegten zusätzlich unser Zuhause. Wir wollten ein Kind, wollten, dass etwas von »uns« übrig bleibt. Zu diesen neuen und verwirrenden Vorstellungen passte kein 14-Stunden-Arbeitstag mit Nachtdiensten, wissenschaftlichem Arbeiten, Vorträgen und Veröffentlichungen. Schon gar nicht, wenn beide Elternteile diesen Tagesablauf lebten. Meine ehrgeizigen
Idealvorstellungen wurden Opfer meiner konservativen Grundstrukturen. Zwei Ehepartner mit Kinderwunsch, die ihren Karriereplänen nachgingen, das schien mir nicht zielführend zu sein. Und dann wurde ich schwanger – und musste mich entscheiden.
Der Rolle als Ehefrau und Mutter konnte ich mit meiner Tätigkeit als Ärztin nicht gerecht werden. Unabhängig davon, ob es meiner Tochter gut ging oder nicht, hätte ich am Krankenbett der Patienten stehen müssen, derweil hätte meine Tochter mich zu Hause gebraucht. Finanziell befand ich mich in der glücklichen Situation, dass ich nicht arbeiten
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