Bei Anbruch der Nacht
zu hören, ob er wieder weinte, aber ich vernahm nur Flughafengeräusche. Plötzlich sagte er:
»Ich weiß, was du denkst. Du denkst, okay, keine andere Frau. Aber vielleicht gibt es einen anderen Mann ? Los, gib’s zu, das denkst du doch, oder? Los, sag es!«
»Eigentlich nicht. Ich bin nie auf die Idee gekommen, du könntest schwul sein. Nicht mal damals, nach der Abschlussprüfung, als du besoffen warst und getan hast, als …«
»Halt die Klappe, du Idiot! Ich meine einen anderen Mann wie: Emilys Liebhaber! Emilys Liebhaber – existiert diese Figur für dich? Davon rede ich nämlich. Und nach meinem Dafürhalten lautet die Antwort nein, nein, nein. Nach der langen Zeit, die wir zusammen sind, durchschaue ich sie ziemlich gut. Aber das Problem ist: Gerade weil ich sie so gut kenne, weiß ich auch noch etwas anderes. Ich weiß, dass sie angefangen hat, darüber nachzudenken. Das ist wahr, Ray, sie hat angefangen, sich andere Männer anzuschauen. Typen wie den Drecks-David Corey!«
»Wer ist das?«
»Der Drecks-David Corey ist ein schleimiger Arsch von einem Anwalt, der eine Spitzenkarriere macht. Wie spitze, weiß ich genau, denn sie erzählt es mir, in den quälendsten Details.«
»Glaubst du … sie treffen sich?«
»Nein, sag ich dir doch! Es läuft nichts, noch nicht! Für den Drecks-David Corey ist sie sowieso Luft. Er ist mit einer Glamourtussi verheiratet, die bei Condé Nast arbeitet.«
»Dann kannst du ja beruhigt sein …«
»Kann ich nicht, denn da ist auch noch Michael Addison.
Und Roger Van Den Berg, ein aufgehender Stern bei Merrill Lynch, der jedes Jahr am Weltwirtschaftsforum teilnimmt …«
»Bitte, Charlie, hör mir jetzt zu. Ich hab hier ein Problem. Geringfügig, nach den meisten Maßstäben, ich geb’s zu. Trotzdem ist es ein Problem. Bitte hör einfach zu.«
Endlich kam ich dazu, ihm zu sagen, was passiert war. Ich berichtete alles so aufrichtig, wie ich konnte, nur auf meinem kurzfristigen Verdacht, Emily könnte mir eine vertrauliche Nachricht hingelegt haben, ritt ich nicht gerade herum.
»Ich weiß, das war wirklich idiotisch«, schloss ich. »Aber sie hat das Ding eben hier liegen lassen, direkt auf dem Küchentisch.«
»Ja.« Charlie klang jetzt viel ruhiger. »Ja. Da hast du dich aber ganz schön in die Nesseln gesetzt.«
Und er lachte. Ermutigt, lachte ich ebenfalls.
»Wahrscheinlich male ich den Teufel an die Wand«, sagte ich. »Es ist schließlich nicht ihr privates Tagebuch oder so. Es ist einfach ein Taschenkalender …« Ich brach ab, denn Charlie lachte immer noch, und in seinem Gelächter schwang ein leicht hysterischer Unterton mit. Dann verstummte er und sagte ausdruckslos:
»Wenn sie draufkommt, wird sie dir die Eier abschneiden wollen.«
Es trat eine kurze Pause ein, in der ich wieder den Flughafengeräuschen lauschte. Dann fuhr er fort:
»Vor ungefähr sechs Jahren hab ich diesen Taschenkalender, also die damalige Ausgabe, selber einmal aufgeschlagen. Ohne mir was dabei zu denken – ich saß in der Küche, und sie kochte was. Du weißt schon, ich schlug ihn gedankenlos auf, während ich irgendwas erzählte. Sie merkte es sofort und sagte, sie kann das nicht leiden. Um genau zu sein: Sie teilte mir bei der
Gelegenheit mit, dass sie mir die Eier abschneiden würde. Und weil sie dazu das Nudelholz schwenkte, wies ich sie drauf hin, dass sie damit ihre Drohung ja nicht gut wahrmachen könnte. Darauf sagte sie: Das Nudelholz kommt nachher. Für das, was sie mit den Eiern macht, wenn sie schon ab sind.«
Im Hintergrund wurde ein Flug aufgerufen.
»Was sollte ich also deiner Meinung nach tun?«, fragte ich.
»Was kannst du tun? Versuch die Seiten zu glätten, so gut es geht. Vielleicht merkt sie ja nichts.«
»Das hab ich versucht, und es geht nicht. Ausgeschlossen, dass sie nichts merkt …«
»Schau, Ray, mir geht im Moment ziemlich viel durch den Kopf. Ich versuche dir nur klarzumachen, dass die ganzen Männer, von denen Emily träumt, in Wirklichkeit keine potenziellen Liebhaber sind. Sondern nur Gestalten, die ihr wunderbar erscheinen, weil sie glaubt, sie hätten so ungeheuer viel erreicht. Ihre Schwachstellen sieht sie nicht. Ihre schiere … Brutalität . Sowieso spielen sie in einer anderen Liga. Tatsache ist – und genau das ist ja so erbärmlich traurig und ironisch an der ganzen Sache -, Tatsache ist, dass sie im Grunde ihres Herzens mich liebt. Sie liebt mich immer noch. Das seh ich, das seh ich.«
»Mit anderen Worten, Charlie, du hast
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