Bei Anbruch der Nacht
keinen Rat.«
»Nein, Scheiße! Ich hab keinen Rat!« Jetzt schrie er wieder lauthals ins Telefon. »Lass dir was einfallen! Du steigst in dein Flugzeug und ich in meins. Wir werden ja sehen, welches abstürzt!«
Damit war er weg. Ich ließ mich aufs Sofa fallen und atmete tief durch. Bleib auf dem Teppich, sagte ich mir, spürte unterdessen aber vom Magen her eine leicht panische Übelkeit. Verschiedene Gedanken gingen mir durch den Kopf. Eine Lösung
war, einfach aus der Wohnung zu fliehen und keinen Kontakt mehr mit Charlie und Emily zu haben, wenigstens ein paar Jahre lang; danach würde ich ihnen einen vorsichtigen, sorgfältig formulierten Brief schicken. Aber sogar in meinem gegenwärtigen Zustand verwarf ich diesen Plan als eine Spur zu verzweifelt. Ein besserer Plan war, mich methodisch durch die Flaschen in ihrer Hausbar zu arbeiten, sodass mich Emily, wenn sie heimkam, sturzbetrunken fände. Dann könnte ich behaupten, ich hätte ihren Kalender gelesen und im Suff die Seiten zerknüllt. Ja, ich könnte in meiner alkoholbedingten Unzurechnungsfähigkeit sogar die Rolle des Gekränkten übernehmen und schreien und anklagen und ihr sagen, wie bitter es mich verletzt habe, solche Worte über mich zu lesen, geschrieben von einer Person, von deren Liebe und Freundschaft ich stets überzeugt gewesen sei, an die zu denken mir durch meine schlimmsten, einsamsten Momente fern der Heimat geholfen habe. Aus praktischer Sicht sprach zwar einiges für diesen Plan, dennoch, das spürte ich, verbarg sich etwas dahinter, mit dem ich mich nicht näher befassen wollte – das mir sagte, er käme für mich nicht infrage.
Nach einer Weile begann das Telefon zu läuten, und wieder tönte Charlies Stimme vom Anrufbeantworter. Als ich mich meldete, klang er erheblich ruhiger als zuvor.
»Ich bin jetzt am Gate«, sagte er. »Tut mir leid, wenn ich vorhin ein bisschen aufgeregt war. Flughäfen machen mich immer nervös. Ich finde erst Ruhe, wenn ich direkt am Ausgang zum Flugsteig sitze. Ray, hör zu, mir ist noch etwas eingefallen. Hinsichtlich unserer Strategie.«
»Was für eine Strategie?«
»Ja, unsere Gesamtstrategie. Natürlich, das weißt du, ist jetzt nicht die Zeit für kleine Verdrehungen der Wahrheit, die
dich in ein besseres Licht rücken sollen. Jetzt ist absolut nicht die Zeit für kleine Notlügen zu Selbstschönungszwecken. Nein, nein. Du erinnerst dich, warum du diesen Auftrag überhaupt bekommen hast, ja? Ray, ich verlass mich drauf, dass du dich Emily so zeigst, wie du bist. Solang du das tust, hat unsere Strategie gute Aussichten.«
»Also ich hab wohl kaum gute Aussichten, als Emilys größter Held rüberzukommen …«
»Ja, du schätzt die Situation richtig ein, und ich bin dir dankbar. Aber mir ist gerade noch etwas eingefallen. Eines gibt es, eine kleine Sache in deinem Repertoire, die hier nicht so ganz passt. Verstehst du, Ray, sie hält an der Überzeugung fest, dass du in musikalischen Dingen einen guten Geschmack hast.«
»Ach …«
»So ungefähr die einzige Gelegenheit, wo sie dich benutzt, um mich herabzusetzen, ist dieses Gebiet, der musikalische Geschmack. In dieser einen Hinsicht bist du für deinen gegenwärtigen Auftrag nicht absolut perfekt. Deswegen, Ray, musst du mir versprechen, dass du dieses Thema nicht zur Sprache bringst.«
»Ach, um Himmels willen …«
»Bitte tu’s mir zuliebe, Ray. Es ist nicht zu viel verlangt. Fang einfach nicht damit an, mit dieser … dieser schnulzigen Nostalgiemusik, die sie liebt. Und wenn sie davon anfängt, dann stellst du dich einfach blöd. Mehr verlang ich nicht. Ansonsten kannst du einfach so sein, wie du bist. Ray, ich kann mich doch auf dich verlassen, oder?«
»Ja, sicher. Das ist sowieso alles ziemlich theoretisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir heute Abend über irgendwas nett plaudern.«
»Gut! Das ist also geklärt. So, und jetzt zu deinem kleinen Problem. Du wirst dich freuen zu hören, dass ich darüber nachgedacht habe. Und mir ist eine Lösung eingefallen. Hörst du zu?«
»Ja.«
»Da gibt es diese zwei, die ständig vorbeikommen, dieses Paar, Angela und Solly. Sie sind okay, aber wenn sie keine Nachbarn wären, hätten wir nicht viel mit ihnen zu tun. Jedenfalls kommen sie ziemlich oft. Du weißt schon, schneien ohne Vorwarnung herein, erwarten Tee. Also Folgendes: Sie kreuzen zu unterschiedlichen Tageszeiten auf, nachdem sie Hendrix rausgebracht haben.«
»Hendrix?«
»Hendrix ist ein übel riechender,
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