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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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der Küche und starrte abermals auf das weinrote Notizbuch. Ich setzte mich dorthin, wo ich zuvor meinen Tee getrunken hatte, zog das Notizbuch zu mir her und schlug es auf.
    Eines wurde sehr rasch klar, nämlich dass dies nicht das Tagebuch war, dem Emily ihre geheimsten Gedanken anvertraute, falls sie so etwas überhaupt tat. Vor mir lag eine Art besserer Terminkalender; bei jedem Tag hatte sie sich verschiedene Erinnerungsstützen notiert, manche mit eindeutig mahnendem Beiklang. Ein Eintrag mit dickem Filzstift lautete: »Wenn Mathilda noch immer nicht angerufen, WARUM ZUM TEUFEL NICHT??? TU’S!!!« Und ein anderer: »Endlich den verdammten Philip Roth fertiglesen. Marion zurückgeben!«
    Als ich weiterblätterte, stieß ich auf folgende Bemerkung: »Raymond kommt Montag. Ächz, stöhn.«
    Ein paar Seiten weiter fand ich: »Morgen Ray. Wie überleb ich das?«
    Unter dem heutigen Tag schließlich stand, neben diversen anderen anstehenden Erledigungen: »Wein kaufen für Ankunft Oberjammerer.«

    Oberjammerer? Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass tatsächlich ich damit gemeint sein könnte. Ich probierte verschiedene andere Möglichkeiten aus – ein Klient? ein Klempner? -, doch angesichts des Datums und des Zusammenhangs musste ich zugeben, dass es keinen anderen ernst zu nehmenden Kandidaten gab. Diese völlig unfaire Bemerkung traf mich auf einmal mit solcher Wucht, dass ich, ehe ich begriff, was ich tat, die kränkende Seite mit der Hand zerknüllte.
    Es war keine besonders ungestüme Tat: Ich riss die Seite nicht einmal heraus. Ich ballte einfach, mit einer einzigen Bewegung, die Faust über dem Blatt zusammen und hatte mich schon im nächsten Moment wieder unter Kontrolle, aber natürlich zu spät. Als ich die Hand öffnete, sah ich, dass nicht nur die fragliche Seite, sondern auch die nächsten zwei Blätter meinem Zorn zum Opfer gefallen waren. Ich versuchte die Seiten zu ihrer ursprünglichen Form zu glätten, aber sie zerknitterten sofort wieder, als wäre es ihr tiefster Wunsch, sich in zusammengeknülltes Altpapier zu verwandeln.
    Trotzdem fuhr ich noch eine ganze Weile mit meinem panischen Bügelversuch an den beschädigten Seiten fort und war nahe daran einzusehen, dass meine Bemühungen sinnlos waren und ich nichts tun konnte, um meine Tat zu verschleiern, als ein irgendwo in der Wohnung läutendes Telefon in mein Bewusstsein eindrang.
    Ich beschloss es zu ignorieren und versuchte stattdessen über die Folgen des Geschehenen nachzudenken. Dann aber schaltete sich der Anrufbeantworter ein, und ich hörte Charlies Stimme eine Nachricht aufsprechen. Vielleicht witterte ich eine Rettungsleine, vielleicht wollte ich mich einfach jemandem anvertrauen – jedenfalls stürzte ich ins Wohnzimmer
und griff nach dem Telefon auf dem gläsernen Couchtisch.
    »Oh, du bist ja doch da.« Charlie klang leicht verärgert, dass ich seine Nachricht unterbrochen hatte.
    »Charlie, hör zu. Ich hab grad was ziemlich Dummes gemacht.«
    »Ich bin am Flughafen«, sagte er. »Die Maschine ist verspätet. Ich will den Fahrdienst anrufen, der mich in Frankfurt abholen soll, aber ich habe die Nummer nicht. Du musst sie mir raussuchen.«
    Er begann mir zu erklären, wo ich das Telefonbuch fände, aber ich fiel ihm abermals ins Wort und sagte:
    »Hör zu, ich hab einen Blödsinn gemacht und weiß nicht, was ich tun soll.«
    Ein paar Sekunden lang war es still. Dann sagte er: »Vielleicht denkst du, Ray, vielleicht denkst du, dass es jemand anderen gibt. Dass ich jetzt auf dem Weg zu ihr bin. Mir ist eingefallen, dass du das denken könntest. Es würde schließlich zu allem passen, was du beobachtet hast. Emilys Verhalten, als ich gegangen bin, alles. Aber du irrst dich.«
    »Ja, ich versteh schon, was du meinst. Aber schau, ich muss wirklich was mit dir besprechen, nämlich …«
    »Akzeptier es einfach, Ray. Du irrst dich. Es gibt keine andere Frau. Ich fliege jetzt nach Frankfurt zu einem Meeting, bei dem es um den Wechsel unserer Stellvertretung in Polen geht. Dorthin bin ich jetzt unterwegs.«
    »Ja, ich versteh dich schon!«
    »In dieser ganzen Geschichte hat nie eine andere Frau eine Rolle gespielt. Ich würde nie eine andere anschauen, jedenfalls nicht irgendwie ernsthaft. Das ist die Wahrheit. Es ist die verdammte Wahrheit, und es steckt nichts anderes dahinter!«

    Er hatte zu schreien angefangen, aber das mag an dem Lärm in der Abflughalle gelegen haben. Jetzt war er still, und ich lauschte angestrengt, um

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