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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Raymond. Was fängst du an, wenn du ganz allein hier bist?«
    »Ich werde mich blendend unterhalten. Wirklich. Überhaupt hab ich schon gedacht, ich könnte mich doch ums Abendessen kümmern, während du fort bist? Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber ich kann inzwischen ziemlich gut kochen. Ich sag dir, wir hatten da dieses Buffet kurz vor Weihnachten …«

    »Das ist schrecklich lieb von dir, dass du helfen willst. Aber ich glaube, das Beste ist, du ruhst dich jetzt aus. Eine fremde Küche kann schließlich ganz schön viel Stress verursachen. Fühl dich hier bitte völlig zu Hause, nimm ein Kräuterbad, hör Musik. Um das Abendessen kümmere ich mich, wenn ich heimkomme.«
    »Aber du willst dir nach einem langen Tag im Büro doch nicht auch noch Gedanken ums Essen machen müssen.«
    »Nein, Ray, du sollst jetzt nur ausspannen.« Sie zog eine Visitenkarte hervor und legte sie auf den Tisch. »Hier hast du meine Durchwahl, auch meine Mobilnummer. Ich muss jetzt wirklich weg, aber du kannst mich jederzeit anrufen. Und denk dran, tu ja nichts, was dich stresst, während ich weg bin.«

    Mich in der eigenen Wohnung zu entspannen fällt mir in letzter Zeit schwer. Wenn ich allein zu Hause bin, werde ich zunehmend unruhig, weil mich die Vorstellung quält, ich könnte draußen irgendwas Entscheidendes verpassen. Bin ich aber in einer fremden Wohnung allein, erfasst mich oft ein angenehmes Gefühl von Frieden. Ich finde es wunderbar, mich mit irgendeinem zufällig herumliegenden Buch in ein fremdes Sofa zu versenken. Genau das tat ich auch diesmal, nachdem Emily gegangen war. Besser gesagt: Ich schaffte gerade ein paar Seiten Mansfield Park , bevor ich einnickte.
    Als ich nach etwa zwanzig Minuten wieder aufwachte, schien die Nachmittagssonne in die Wohnung. Ich stand vom Sofa auf und begann mit einer kleinen Besichtigungstour. Vielleicht waren während unseres Mittagessens tatsächlich Putzleute hier gewesen, vielleicht hatte auch Emily selbst aufgeräumt, jedenfalls sah das große Wohnzimmer recht untadelig aus. Abgesehen von der Aufgeräumtheit, war es mit modernen
Designermöbeln und allerlei Dekogegenständen stilbewusst eingerichtet – ein weniger wohlgesinnter Betrachter hätte allerdings auch sagen können, dass alles zu offensichtlich dem Effekt diente. Ich überflog die Buchtitel, dann sah ich mir die CD-Sammlung an. Es war fast nur Rock und Klassik, sah ich, bis ich nach einigem Suchen eine kleine Abteilung fand, in der Fred Astaire, Chet Baker, Sarah Vaughan ein Schattendasein fristeten. Dass Emily nicht viel mehr von ihrer kostbaren LP-Sammlung durch ihre CD-Reinkarnationen ersetzt hatte, wunderte mich, aber ich dachte nicht weiter darüber nach, sondern schlenderte in die Küche.
    Als ich auf der Suche nach Keksen oder einer Tafel Schokolade ein paar Schranktüren öffnete, fiel mir auf dem Küchentisch etwas ins Auge, das ein kleines Notizbuch zu sein schien und mit seinem weinroten, gepolsterten Einband von den glatten minimalistischen Flächen der Küche abstach. In der Hektik ihres Aufbruchs hatte Emily, während ich meinen Tee trank, ihre Handtasche auf dem Küchentisch ausgeleert und wieder eingeräumt und dabei anscheinend ihr Notizbuch vergessen. Aber fast im nächsten Moment kam mir ein anderer Gedanke: dass dieses weinrote Ding eine Art Tagebuch war und Emily es mit Absicht hatte liegen lassen, praktisch als Aufforderung an mich, einen Blick hineinzuwerfen; dass sie sich aus irgendeinem Grund nicht in der Lage fühlte, sich unverblümt zu äußern, und diese Methode gewählt hatte, um ihren inneren Aufruhr mitzuteilen.
    Eine Zeit lang stand ich da und starrte auf das Notizbuch. Dann streckte ich die Hand aus, steckte mehr oder weniger in der Mitte den Zeigefinger zwischen die Seiten und bog sie behutsam auseinander. Der Anblick von Emilys zusammengedrängter Handschrift ließ mich den Finger wieder herausziehen,
und ich trat vom Tisch zurück und sagte mir, ich hätte kein Recht, hier herumzuschnüffeln, was auch immer Emily in einem irrationalen Moment bezweckt haben mochte.
    Ich ging wieder ins Wohnzimmer, ließ mich auf dem Sofa nieder und las weiter in Mansfield Park , aber jetzt fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem weinroten Notizbuch zurück. Was, wenn es gar keine impulsive Idee gewesen war? Wenn sie das schon seit Tagen so geplant hatte? Eigens einen Text verfasst hatte, damit ich ihn las?
    Zehn Minuten später war ich wieder in

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