Bei Anbruch der Nacht
einzuladen. Als Perspektive.«
Charlie blieb endlich stehen und sah mich an. »Versteh mich nicht falsch, Ray. Ich sage ja nicht, dass du ein schrecklicher Versager oder so was bist. Du bist weder drogensüchtig noch ein Mörder, schon klar. Aber neben mir, entschuldige schon, bist du nicht gerade der größte Überflieger. Deswegen frage ich dich, deswegen bitte ich dich um diesen Gefallen. Wir sind am Ende, ich bin verzweifelt, ich brauche deine Hilfe. Und was verlang ich denn schon von dir, um Himmels willen? Dass du einfach so bist wie immer. Nicht mehr, nicht weniger. Tu’s mir zuliebe, Raymond. Mir und Emily zuliebe. Zwischen uns ist noch nicht alles verloren, das weiß ich. Sei einfach du selber, ein paar Tage lang, bis ich zurück bin. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?«
Ich atmete tief durch und sagte: »Okay. Okay, wenn du meinst, das hilft. Aber wird Emily nicht über kurz oder lang dahinterkommen?«
»Warum? Sie weiß, dass ich einen wichtigen Termin in Frankfurt habe. Für sie ist die Sache ganz klar. Sie hat einen Gast und kümmert sich um ihn, weiter nichts. Das macht sie gern, und sie mag dich. Ah, ein Taxi.« Er winkte hektisch, und als der Fahrer auf uns zusteuerte, packte er mich am Arm. »Danke, Ray. Du schaffst das, du wirst das Ruder für uns herumreißen, ich weiß es.«
Als ich in die Wohnung zurückkam, hatte sich Emilys Verhalten vollständig gewandelt. Sie empfing mich, wie sie vielleicht
einen uralten, gebrechlichen Verwandten aufgenommen hätte. Lächelte mir aufmunternd zu, berührte sacht meinen Arm. Bot mir Tee an und führte mich, als ich akzeptierte, in die Küche, setzte mich an den Tisch und stand dann sekundenlang vor mir und betrachtete mich mit besorgter Miene. Schließlich sagte sie leise:
»Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so angefahren habe, Raymond. Ich habe kein Recht, so mit dir zu reden.« Während sie sich abwandte, um Tee zu machen, fuhr sie fort: »Es ist doch schon eine Ewigkeit her, seit wir zusammen studiert haben. Das vergesse ich immer. Es fiele mir nicht im Traum ein, mit anderen Freunden so zu reden. Aber mit dir, tja, wahrscheinlich brauche ich dich nur zu sehen, und schon ist es, als wäre die Zeit zurückgedreht worden, als wären wir wieder wie früher, und ich vergesse es einfach. Du darfst dir das wirklich nicht zu Herzen nehmen.«
»Nein, nein. Ich nehm’s mir ja gar nicht zu Herzen.« In Gedanken war ich noch bei meinem Gespräch mit Charlie und wirkte vermutlich distanziert. Ich glaube, Emily verstand das falsch, denn ihr Tonfall wurde noch sanfter.
»Es tut mir so leid, dass ich dich aufgeregt habe.« Liebevoll arrangierte sie Kekse auf einem Teller, den sie vor mich hinstellte. »Tatsache ist, Raymond, dass wir damals praktisch alles zu dir sagen konnten, du hast einfach gelacht und wir ebenfalls, und alles war ein großer Witz. Wie dumm von mir, zu denken, dass du noch immer so bist!«
»Also, eigentlich bin ich ja wirklich noch so, mehr oder weniger jedenfalls. Ich hab mir gar nichts dabei gedacht.«
»Mir war nicht klar«, fuhr sie fort, als hätte sie mich nicht gehört, »wie anders du jetzt bist. Wie verzweifelt du sein musst.«
»Schau, Emily, wirklich, mir geht’s nicht so schlecht …«
»Nach den letzten Jahren hängst du bestimmt völlig in der Luft. Du bist wie einer, der am Abgrund steht. Nur noch ein winziger Schubs, und du brichst zusammen.«
»Fällst, meinst du.«
Sie hatte mit dem Kessel hantiert, aber jetzt drehte sie sich um und starrte mich wieder an. »Bitte, Raymond, red doch nicht so. Nicht mal im Spaß. Ich möchte nie wieder hören, dass du so redest.«
»Nein, du verstehst mich falsch. Du hast gesagt, ein Schubs, und ich breche zusammen. Aber wenn ich am Abgrund stehe, dann breche ich nicht zusammen, sondern ich falle.«
»Ach, du Ärmster.« Anscheinend nahm sie noch immer nicht wahr, was ich sagte. »Du bist wirklich nur noch ein Schatten des früheren Raymond.«
Ich hielt es für das Beste, gar nicht mehr zu antworten, und die nächsten Minuten warteten wir still, bis das Wasser kochte. Sie goss Tee für mich auf, aber nicht für sich, und stellte den Becher vor mich hin.
»Es tut mir wirklich leid, Raymond, aber ich muss jetzt ins Büro zurück. Ich habe zwei Sitzungen, die ich auf keinen Fall versäumen darf. Hätte ich gewusst, wie du beisammen bist, hätte ich dich nicht im Stich gelassen, sondern die Sache anders arrangiert. Aber jetzt ist es, wie es ist, man erwartet mich. Armer
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