Bei Anbruch der Nacht
unkontrollierbarer, wahrscheinlich gemeingefährlicher Labrador. Für Angela und Solly ist das stinkende Wesen natürlich das Kind, das sie nie hatten. Oder das sie noch nicht haben, denn sie sind wahrscheinlich jung genug für echte Kinder. Aber nein, sie ziehen den süßen Hendrix-Schatz vor. Und wenn sie vorbeischauen, macht sich der süße Hendrix-Schatz regelmäßig dran, die Wohnung zu demolieren, systematisch wie ein frustrierter Einbrecher. Nieder mit der Stehlampe. Ach du meine Güte, mach dir nichts draus, Süßer, bist du erschrocken? In der Art – du kannst es dir vorstellen. Jetzt hör zu. Vor ungefähr einem Jahr hatten wir so einen Bildband, Luxusausstattung, kostet ein Vermögen, voller künstlerischer Bilder von jungen Schwulen, die in nordafrikanischen Kasbas posieren. Emily ließ ihn gern auf einer bestimmten Seite aufgeschlagen, sie fand, das passt zum Sofa. Sie wurde wahnsinnig, wenn man umblätterte. Wie gesagt, vor einem Jahr kam Hendrix herein und zerlegte das Teil. Du hörst richtig. Gräbt seine Zähne in all die edlen Fotos
und zerkaut insgesamt etwa zwanzig Seiten, bevor Mami ihn überreden kann, das zu unterlassen. Du verstehst, warum ich dir das erzähle, ja?«
»Ja. Das heißt, ich erkenne den Hinweis auf einen Fluchtweg, aber …«
»Okay, ich buchstabier’s dir. Folgendes wirst du Emily erzählen. Es läutet an der Tür, du machst auf, diese zwei stehen draußen mit ihrem Hendrix, der an der Leine zieht. Sie sagen, sie sind Angela und Solly, gute Freunde, die ihren Tee brauchen. Du lässt sie rein, Hendrix reißt sich los, kriegt den Taschenkalender zwischen die Zähne. Ist total plausibel. Was ist los? Wieso sagst du nicht danke? Ist dem Herrn vielleicht nicht gut genug, wie?«
»Ich bin sehr dankbar, Charlie. Ich denke nur nach, das ist alles. Was ist zum Beispiel, wenn die beiden wirklich aufkreuzen? Ich meine, wenn Emily zu Hause ist?«
»Das ist möglich. Dazu kann ich nur sagen, dass es schon ein Riesenpech sein müsste, wenn ausgerechnet das passiert. Wenn ich sage, sie schauen oft vorbei, dann meine ich damit: vielleicht einmal im Monat, höchstens. Also hör auf, Haare in der Suppe zu finden, und sei dankbar.«
»Aber Charlie, ist das nicht ein bisschen weit hergeholt? Dass der Hund nur diesen Kalender zerfrisst und dann auch noch ausgerechnet diese paar Seiten?«
Ich hörte ihn seufzen. »Ich dachte, ich muss dir nicht auch noch den Rest vorbeten. Natürlich musst du ein bisschen Unordnung machen. Schmeiß die Stehlampe um, streu Zucker auf den Küchenfußboden. Es muss so aussehen, als hätte Hendrix wieder mal Wirbelwind gespielt. Hör zu, sie rufen jetzt meinen Flug auf. Ich muss Schluss machen. Ich melde mich wieder, sobald ich in Deutschland bin.«
Mich hatte währenddessen ein ähnliches Gefühl überkommen, wie ich es habe, wenn zum Beispiel jemand einen Traum erzählt oder die Verkettung der Umstände, die zu der kleinen Beule in seiner Autotür geführt haben. Sein Plan war wunderbar, genial geradezu, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich irgendetwas von der Art zu Emily sagte, wenn sie heimkam, und ich merkte, wie ich zusehends die Geduld verlor. Aber jetzt, nachdem Charlie aufgelegt hatte, stellte ich fest, dass sein Anruf eine hypnotisierende Wirkung auf mich ausgeübt hatte. Noch während mein Hirn seine Idee als völlig idiotisch verwarf, machten sich meine Arme und Beine daran, seine »Lösung« in die Tat umzusetzen.
Als Erstes legte ich die Stehlampe um. Ich achtete darauf, nichts damit anzustoßen, und entfernte zuerst den Lampenschirm, den ich dann schief wieder aufsetzte, sobald das Ding auf dem Boden arrangiert war. Dann nahm ich eine Vase aus dem Bücherregal und legte sie auf den Teppich, die getrockneten Gräser, die darin waren, verteilte ich rundherum. Als Nächstes suchte ich mir eine gute Stelle in der Nähe des Couchtisches, um den Papierkorb umzukippen. Ich verrichtete mein Werk auf eine fremdartige, irgendwie körperlose Weise. Ich glaubte nicht, dass irgendetwas davon zielführend wäre, aber das Tun als solches empfand ich als durchaus wohltuend. Dann fiel mir wieder ein, dass mein Vandalismus ja in einer Beziehung zu Emilys Notizbuch stehen musste, und ging in die Küche hinüber.
Nach kurzem Nachdenken nahm ich eine Zuckerdose aus einem Schrank, stellte sie in der Nähe des Notizbuchs auf den Tisch und kippte sie langsam, bis der Zucker herausrieselte. Es dauerte eine Weile, bis ich die Dose so platziert hatte, dass sie
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