Bei Anbruch der Nacht
ihm sagen, dass das der Klang ist, die akustische Umgebung, die Sie brauchen. Dann kommt Ihr Lied beim Zuhörer so an, wie wir es heute gehört haben: vom Wind getragen, während wir den Hang herunterkommen …«
»Aber natürlich ein bisschen klarer«, sagte die Frau. »Sonst kriegt man den Text nicht mit. Aber Tilo hat recht. Es braucht die Andeutung von freier Natur. Von Luft, von Echo.«
Sie schienen nahe daran, sich hinreißen zu lassen, als wären sie hier in den Hügeln einem neuen Elgar begegnet. Meinem anfänglichen Argwohn zum Trotz begann ich mich für sie zu erwärmen.
»Na ja«, sagte ich, »nachdem ich den größten Teil des Lieds hier oben geschrieben habe, ist es eigentlich kein Wunder, dass es auch was von der Gegend hier enthält.«
»Ja, ja«, sagten sie beide gleichzeitig, nickend. Dann sagte die Frau: »Seien Sie nicht schüchtern, bitte, lassen Sie uns noch mehr von Ihrer Musik hören. Das hat sich wunderbar angehört.«
»Na gut«, sagte ich und spielte eine kleine Figur. »Na gut, wenn Sie wirklich wollen, sing ich Ihnen ein Lied vor. Nicht das von vorhin, das ist noch nicht fertig. Ein anderes. Aber
schauen Sie, ich kann es nicht tun, wenn Sie beide so über mir stehen.«
»Natürlich«, sagte Tilo. »Wie rücksichtslos von uns. Sonja und ich, wir mussten schon unter so merkwürdigen und schwierigen Umständen auftreten, dass wir unsensibel für die Bedürfnisse anderer Musiker geworden sind.«
Er sah sich um und setzte sich mit dem Rücken zu mir auf ein Büschel stoppeliges Gras am Wegesrand, von wo aus er ins Tal blickte. Sonja warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu, dann setzte sie sich neben ihn. Sofort legte er einen Arm um ihre Schultern, sie schmiegte sich an ihn, und es war, als wäre ich nicht mehr da, als wären sie zwei Verliebte, die in einer romantischen Anwandlung beieinander saßen und auf die Landschaft im Nachmittagslicht hinausblickten.
»Okay, es geht los«, sagte ich und begann mit dem Lied, mit dem ich praktisch immer anfange, wenn ich vorspiele. Ich richtete meine Stimme gegen den Horizont, blickte dabei aber immer wieder zu Tilo und Sonja hinüber. Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, aber die Art, wie sie aneinandergekuschelt dasaßen, ohne eine Spur von Unruhe, sagte mir, dass ihnen mein Spiel gefiel. Als ich fertig war, drehten sie sich strahlend zu mir um und applaudierten, dass es von den Hügeln widerhallte.
»Fantastisch!«, sagte Sonja. »So talentiert!«
»Prächtig, prächtig«, sagte Tilo.
Mir war das viele Lob ein bisschen peinlich, und ich tat, als wäre ich in die Gitarrenbegleitung vertieft. Als ich schließlich wieder aufschaute, saßen sie noch immer im Gras, hatten sich aber umgesetzt und blickten jetzt zu mir her.
»Sie sind also beide Musiker?«, fragte ich. »Ich meine, Berufsmusiker?«
»Ja«, sagte Tilo. »So kann man uns wohl nennen. Sonja und ich, wir treten als Duo auf. In Hotels, in Restaurants. Auf Hochzeiten, auf Partys. In ganz Europa, obwohl wir am liebsten in der Schweiz und in Österreich arbeiten. Wir leben davon, also kann man schon sagen, ja, wir sind Berufsmusiker.«
»Aber vor allen Dingen«, sagte Sonja, »spielen wir, weil wir an die Musik glauben. Ich sehe, dass es bei Ihnen genauso ist.«
»Wenn ich von meiner Musik nicht mehr überzeugt wäre«, sagte ich, »dann würde ich damit aufhören, einfach so.« Dann fügte ich hinzu: »Ich würde sie wirklich gern zum Beruf machen. Es muss ein gutes Leben sein.«
»Oh ja, das ist es«, sagte Tilo. »Wir haben wirklich Glück, dass wir in der Lage sind, das zu tun, was wir tun.«
»Hören Sie«, sagte ich, vielleicht ein bisschen unvermittelt. »Waren Sie in dem Hotel, das ich Ihnen genannt habe?«
»Wie unhöflich von uns!«, rief Tilo aus. »Jetzt waren wir derart von Ihrer Musik gebannt, dass wir ganz vergessen haben, danke zu sagen. Ja, waren wir, und es ist genau das Richtige. Zum Glück hat es noch freie Zimmer.«
»Es ist genau das, was wir wollten«, sagte Sonja. »Danke.«
Ich tat wieder sehr von meinen Akkorden in Anspruch genommen, dann sagte ich so beiläufig, wie es ging: »Was mir im Nachhinein noch eingefallen ist: Es gibt da auch noch ein anderes Hotel, das ich kenne. Ich glaube, es ist besser als Malvern Lodge. Vielleicht wollen Sie wechseln.«
»Ach nein, wir sind jetzt schon ganz gut eingerichtet«, sagte Tilo. »Wir haben unsere Sachen ausgepackt, und außerdem ist es wirklich genau das, was wir brauchen.«
»Ja, aber … Also die Sache ist
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