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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Zauber. Wir wollten schon so lang diesen Teil Englands besuchen. Immer wieder haben wir davon geredet, und jetzt sind wir endlich hier!« Er lachte herzlich. »Wir sind so glücklich, hier zu sein!«
    »Das ist ja schön«, sagte Maggie. »Viel Spaß wünsche ich Ihnen. Sind Sie länger hier?«
    »Wir haben noch drei Tage, dann heißt es zurück an die Arbeit. Wir haben uns auf die Gegend hier gefreut, seitdem wir vor vielen Jahren mal einen wunderbaren Dokumentarfilm über Elgar gesehen haben. Elgar hat diese Hügel offensichtlich geliebt und ausgiebig auf dem Fahrrad erkundet. Und jetzt sind wir endlich hier!«
    Maggie plauderte etliche Minuten mit ihm über Orte in England, die sie schon besucht hatten, über Sehenswürdigkeiten in der Umgebung – das übliche Zeug eben, das man mit Touristen so redet. Nachdem ich es schon unzählige Male gehört hatte und es selber mehr oder weniger automatisch abspulen konnte, klinkte ich mich aus. Ich bekam nur mit, dass die Krauts keine Deutschen waren, sondern Schweizer und mit einem Mietwagen unterwegs. Er sagte immer wieder,
was für ein großartiges Land England sei und wie freundlich die Leute hier, und stieß ein lautes Gelächter aus, wann immer Maggie etwas auch nur annähernd Witziges sagte. Aber wie gesagt – ich klinkte mich aus, nachdem ich sie als ziemlich langweiliges Paar abgehakt hatte. Meine Neugier erwachte erst etwas später, als mir auffiel, wie der Mann dauernd versuchte, seine Frau ins Gespräch zu verwickeln, sie aber stumm blieb, beharrlich in ihrem Reiseführer las und sich überhaupt benahm, als bekäme sie von der Unterhaltung gar nichts mit. Daraufhin nahm ich die beiden genauer in Augenschein.
    Sie hatten eine gleichmäßige, natürliche Sonnenbräune, ganz anders als die verschwitzten Hummergestalten der Einheimischen draußen, und trotz ihres Alters waren sie beide schlank und wirkten durchtrainiert. Sein Haar war grau, aber dicht und sorgfältig frisiert, allerdings irgendwie im Stil der Siebzigerjahre, ein bisschen wie die Sänger von ABBA. Ihr Haar hingegen war hellblond, fast weiß, und ihre Miene streng, und sie hätte ausgesehen wie eine schöne ältere Frau, hätten nicht die Falten um den Mund diesen Eindruck verdorben. Und wie gesagt, er versuchte sie immer wieder ins Gespräch einzubeziehen.
    »Meine Frau hat Elgar natürlich sehr gern und würde nichts lieber tun, als sein Geburtshaus zu besichtigen.«
    Schweigen.
    Oder: »Ich bin kein großer Fan von Paris, muss ich gestehen. London ist mir viel lieber. Aber Sonja liebt Paris.«
    Keine Reaktion.
    Bei jeder solchen Bemerkung drehte er sich zu der Ecke, in der seine Frau saß, und Maggie war gezwungen, zu ihr hinüberzusehen; die Frau aber las stur in ihrem Buch weiter. Der Mann ließ sich davon nicht beirren, sondern plauderte munter
weiter. Dann reckte er abermals die Arme und sagte: »Wenn Sie mich kurz entschuldigen – ich glaube, ich muss jetzt mal Ihre prächtige Aussicht bewundern!«
    Er ging hinaus, und wir sahen ihn die Terrasse entlangschlendern. Dann verschwand er aus unserem Blickfeld. Die Frau saß noch immer in der Ecke und las in ihrem Reiseführer, und als Maggie nach einer Weile zu ihrem Tisch hinüberging, um abzuräumen, ignorierte die Frau sie vollkommen – bis meine Schwester einen Teller nehmen wollte, auf dem noch ein winziges Stück Semmel lag. Da warf sie ihr Buch hin und sagte, viel lauter als nötig: »Ich bin noch nicht fertig!«
    Maggie entschuldigte sich und ließ sie mit ihrem Stück Semmel allein – die Frau aber machte keine Anstalten, es zu essen. Maggie warf mir einen Blick zu, als sie an mir vorbeikam, und ich zuckte die Achseln. Kurz darauf fragte meine Schwester die Frau – sehr freundlich -, ob sie noch einen Wunsch habe.
    »Nein, ich will nichts mehr.«
    Ihrem Tonfall war anzuhören, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte, aber bei Maggie ist das eine Art Reflex: Als wollte sie es wirklich wissen, fragte sie: »War denn alles in Ordnung?«
    Mindestens fünf, sechs Sekunden lang las die Frau weiter, als hätte sie nichts gehört. Dann legte sie abermals ihr Buch nieder und funkelte meine Schwester an.
    »Wenn Sie schon fragen«, antwortete sie, »will ich’s Ihnen sagen. Das Essen war völlig okay. Besser als in den meisten grässlichen Lokalen, die Sie hier haben. Aber wir mussten fünfunddreißig Minuten warten, bis wir ein schlichtes Sandwich und einen Salat bekamen. Fünfunddreißig Minuten.«
    Jetzt war mir klar, dass die Frau vor Wut

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