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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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das Gefühl hatte, dass ich vorerst mehr als genug getan hatte. In meinem Zimmer setzte ich mich mit meiner Gitarre ins Erkerfenster und ging eine Zeit lang völlig in einem Lied auf, das zur Hälfte fertig war. Aber dann – und es schien mir, als sei gar keine Zeit vergangen – hörte ich, wie unten der Nachmittagsteeansturm begann. Wenn es richtig schlimm wurde, wie meistens, müsste mich Maggie natürlich herunterbitten – und nach allem, was ich an dem Tag schon getan hatte, schien mir das wirklich
nicht fair. Ich fand es also das Beste, ins Freie zu entwischen und meine Arbeit in den Hügeln fortzusetzen.
    Ich verschwand durch die Hintertür, ohne einer Menschenseele zu begegnen, und war sofort erleichtert, draußen zu sein. Allerdings war es ziemlich warm, vor allem wenn man einen Gitarrenkoffer schleppt, und ich war froh um die Brise.
    Ich hatte eine bestimmte Stelle im Sinn, die ich in der Woche zuvor entdeckt hatte. Der Weg dorthin führt einen steilen Pfad hinter dem Haus hinauf, dann folgt man ein paar Minuten einem sanfteren Anstieg und gelangt schließlich zu dieser Bank hier. Ich hatte mir bewusst diese ausgesucht, nicht nur wegen der fantastischen Aussicht, sondern vor allem weil sie an keiner Wegkreuzung steht, wo von allen Seiten Leute mit ermatteten Kindern herbeiwanken und sich zu einem setzen. Andererseits war sie auch nicht komplett aus der Welt, sondern es kamen ab und zu Wanderer vorbei, grüßten, wie sie’s immer tun, fügten vielleicht noch irgendwas Geistreiches über meine Gitarre hinzu, aber alles, ohne das Tempo zu verlangsamen. Das störte mich gar nicht. Es war, als hätte man ein Publikum und auch wieder nicht – für meine Fantasie war das genau der richtige Anstoß.
    Ich hatte vielleicht eine halbe Stunde auf meiner Bank gesessen, als zwei Wanderer, die mit dem üblichen kurzen Gruß vorbeimarschiert waren, ein paar Meter entfernt stehen blieben und mich beobachteten. Das wiederum störte mich durchaus, und ich sagte leicht sarkastisch:
    »Schon gut. Sie müssen mir keine Münzen zuwerfen.«
    Zur Antwort ertönte ein lautes, herzhaftes Lachen, das mir bekannt vorkam, und als ich aufblickte, kamen die Krauts auf meine Bank zu.
    Im ersten Moment schoss mir der Gedanke durch den
Kopf, dass sie womöglich schon bei der Hexe Fraser gewesen waren, begriffen hatten, dass ich mir einen Scherz erlaubt hatte, und jetzt zurückgekommen waren, um ein Hühnchen mit mir zu rupfen. Aber dann sah ich, dass nicht nur der Mann, sondern auch die Frau vergnügt lächelten. Sie kamen bis zu mir zurück, und nachdem die Sonne inzwischen niedrig stand, waren sie erst einmal nur zwei Silhouetten unter dem weiten Nachmittagshimmel. Dann kamen sie noch näher, und ich sah sie beide auf meine Gitarre starren, während ich weiterspielte, sie starrten mit einer seligen Verwunderung, wie die Leute oft Babys anstaunen. Noch verblüffender war, dass die Frau mit dem Fuß den Takt klopfte. Ich wurde verlegen und hörte auf.
    »Hey, machen Sie weiter!«, sagte die Frau. »Das ist wirklich gut, was Sie da spielen!«
    »Ja«, sagte der Mann, »wunderbar! Wir haben es schon aus der Ferne gehört.« Er deutete nach oben. »Wir waren dort oben auf dem Grat, und ich sagte zu Sonja: Ich höre Musik.«
    »Auch Gesang«, sagte die Frau. »Ich sagte zu Tilo: Horch, da singt jemand. Und ich hatte recht, oder? Gerade haben Sie doch noch gesungen?«
    Ich konnte nicht glauben, dass diese lächelnde Frau dieselbe war, die uns mittags noch so angeschnauzt hatte, und ich sah mir die beiden noch einmal genauer an – konnte ja sein, dass es doch ein ganz anderes Paar war. Aber sie trugen dieselben Klamotten, und obwohl der Wind die ABBA-Frisur des Mannes ein bisschen aus der Fasson gebracht hatte, bestand kein Zweifel. So oder so sagte er jetzt:
    »Ich glaube, Sie sind der Herr, der uns in diesem köstlichen Restaurant das Mittagessen serviert hat.«
    Ich gab es zu. Dann sagte die Frau:

    »Diese Melodie, die Sie gesungen haben. Wir hörten sie dort oben, erst nur im Wind. Wie sie am Ende jeder Zeile abfällt, finde ich schön.«
    »Danke«, sagte ich. »Ich arbeite dran. Ist noch nicht fertig.«
    »Ihre eigene Komposition? Dann sind Sie ja ungemein talentiert! Bitte singen Sie uns die Melodie noch mal, wie vorhin!«
    »Wissen Sie«, sagte der Mann, »wenn Sie Ihr Lied dann einspielen, müssen Sie dem Produzenten sagen, dass Sie den Sound genau so wollen. So!« Er deutete auf das vor uns hingebreitete Herfordshire. »Sie müssen

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