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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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sich wieder in die vorige Position, sodass sie mir den Rücken zukehrten und ins Tal blickten. Diesmal aber schmiegten sie sich nicht aneinander, sondern saßen befremdlich aufrecht dort im Gras, beide mit einer Hand über den Augen, um sie gegen die Sonne abzuschirmen. So verharrten sie die ganze Zeit, während ich spielte, eigenartig reglos, und nachdem sie beide jetzt auch noch einen langen Nachmittagsschatten warfen, sahen sie aus wie zusammengehörige Kunstobjekte. Ich ließ mein unfertiges Lied verhalten auslaufen, und im ersten Moment rührten sie sich nicht. Dann entspannte sich ihre Haltung, und sie applaudierten, allerdings nicht ganz so enthusiastisch wie beim letzten Mal. Tilo stand auf, Komplimente murmelnd, dann half er Sonja auf. Erst wenn man sah, wie sie aufstanden, fiel einem wieder ein, dass sie tatsächlich schon älter waren. Vielleicht waren sie einfach müde – schließlich waren sie schon ein ordentliches Stück gewandert, bevor sie auf mich gestoßen waren. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass sie sich ziemlich anstrengen mussten, um auf die Beine zu kommen.
    »Sie haben uns wunderbar unterhalten«, sagte Tilo. »Jetzt sind wir die Touristen, und jemand anderes spielt für uns! Eine willkommene Abwechslung.«
    »Ich würde das Lied sehr gern hören, wenn es fertig ist«, sagte Sonja, und sie schien es ernst zu meinen. »Vielleicht höre ich es eines Tages im Radio, wer weiß?«

    »Ja«, sagte Tilo, »und dann werden Sonja und ich den Kunden unsere Coverversion vorspielen!« Sein mächtiges Lachen scholl über das Land. Dann machte er eine höfliche kleine Verbeugung und sagte: »Heute stehen wir also dreimal in Ihrer Schuld. Ein prächtiges Essen. Eine prächtige Hotelempfehlung. Und ein prächtiges Freiluftkonzert in den Hügeln!«
    Als wir uns voneinander verabschiedeten, hatte ich den Drang, ihnen die Wahrheit zu sagen. Zu gestehen, dass ich sie absichtlich ins übelste Hotel der Gegend geschickt hatte, und ihnen zu raten, wieder auszuziehen, solang es noch ging. Aber die freundschaftliche Art, wie sie mir die Hand schüttelten, machte das Geständnis nur umso schwieriger. Und dann waren sie schon auf dem Weg hügelabwärts, und ich war auf meiner Bank wieder allein.

    Als ich zurückkam, hatte das Café schon geschlossen. Maggie und Geoff machten einen erschöpften Eindruck. Maggie sagte, noch nie sei so viel los gewesen wie an diesem Tag, und schien sich darüber zu freuen. Aber als Geoff beim Abendessen – wir aßen im Café verschiedene Reste auf – dasselbe sagte, klang es aus seinem Mund wie etwas Negatives, als wäre es furchtbar, dass sie so viel hatten schuften müssen, und wo ich die ganze Zeit gewesen sei, statt zu helfen. Maggie fragte, wie mein Nachmittag verlaufen sei, und ich erwähnte nichts von Tilo und Sonja – es schien mir zu kompliziert -, aber ich sagte, ich sei oben am Sugarloaf gewesen, um an meinem Lied zu arbeiten. Und als sie fragte, ob es Fortschritte mache, sagte ich Ja, ich käme jetzt richtig gut voran. Geoff stand auf und ging missmutig hinaus, obwohl er noch nicht aufgegessen hatte. Maggie tat, als wäre nichts, und wirklich kam er kurz darauf mit einer Bierdose wieder, und dann saß er da, las seine
Zeitung und redete nicht viel. Weil ich nicht Ursache eines Streits zwischen meiner Schwester und meinem Schwager sein wollte, entschuldigte ich mich kurz darauf und ging hinauf, um mit meinem Lied weiterzumachen.
    Mein Zimmer, bei Tageslicht so inspirierend, war nach Einbruch der Dunkelheit nicht annähernd so reizvoll. Es fing damit an, dass sich die Vorhänge nicht vollständig zuziehen ließen, was bedeutete, dass ich, wenn ich wegen der Bruthitze ein Fenster öffnete, mit dem Licht sämtliche Insekten aus dem Umkreis von Meilen anlockte. Und das Licht, das ich hatte, war nur diese eine nackte Glühbirne, die von der Rosette an der Decke herabhing und trübsinnige Schatten warf und den Raum so ungenutzt aussehen ließ, wie er im Grunde war. An diesem Abend brauchte ich Licht zum Arbeiten, um Textzeilen gleich zu notieren, wenn sie mir einfielen. Aber es wurde mir bald viel zu stickig, und schließlich machte ich das Licht aus, zog die Vorhänge zurück und riss die Fenster weit auf. Dann setzte ich mich mit meiner Gitarre in den Erker, wie ich es tagsüber zu tun pflegte.
    Ich hatte vielleicht eine Stunde so gesessen und verschiedene Ideen für die Überleitung durchgespielt, als es an der Tür klopfte und Maggie ihren Kopf hereinsteckte. Natürlich

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