Bei Anbruch der Nacht
die, dass ich vorhin, als Sie mich nach einem Hotel fragten, nicht wusste, dass Sie Musiker sind. Ich dachte, Sie sind bei einer Bank oder so.«
Sie brachen in einhelliges Gelächter aus, als hätte ich einen fantastischen Witz gemacht. Dann sagte Tilo: »Nein, nein, wir sind keine Bankleute. Obwohl wir uns oft und oft gewünscht haben, wir wären welche!«
»Ich meine«, sagte ich, »es gibt andere Hotels, die viel passender sind für, ich weiß nicht – für künstlerische Typen, wie Sie’s sind. Es ist schwer, Touristen ein Hotel zu empfehlen, wenn man nicht weiß, was für Leute sie sind.«
»Das ist nett, dass Sie sich Gedanken machen«, sagte Tilo. »Aber das müssen Sie wirklich nicht. Es ist perfekt, wo wir jetzt sind. Außerdem sind die Menschen ja nicht so verschieden. Banker, Musiker – letztlich wollen wir vom Leben alle dasselbe.«
»Ich weiß nicht, ob das so stimmt«, sagte Sonja. »Unser junger Freund hier, siehst du, er strebt nicht nach einem Job in einer Bank. Er hat andere Träume.«
»Ja, da magst du recht haben, Sonja. Wie dem auch sei – das jetzige Hotel ist uns ganz recht.«
Ich beugte mich über die Saiten und übte wieder eine kleine Phrase vor mich hin, und eine Zeit lang sprach niemand. Dann fragte ich: »Was für eine Musik machen Sie denn überhaupt?«
Tilo zuckte die Achseln. »Sonja und ich kommen zusammen auf eine ganz hübsche Reihe von Instrumenten. Beide spielen wir Keyboard. Ich liebe die Klarinette. Sonja ist eine sehr gute Geigerin und auch eine prächtige Sängerin. Was wir am liebsten machen, ist wohl unsere traditionelle Schweizer Volksmusik, aber wir spielen sie auf zeitgenössische Weise. Manchmal sogar, könnte man sagen, radikal modern. Unser Vorbild dabei sind große Komponisten, die einen ähnlichen Weg eingeschlagen haben, Janáček zum Beispiel. Ihr Vaughan Williams.«
»Aber diese Art Musik«, sagte Sonja, »die spielen wir heutzutage nicht mehr so oft.«
Sie wechselten einen Blick, in dem ich den Anflug einer Spannung zu erkennen meinte. Dann war Tilos Lächeln wieder da.
»Ja, wie Sonja sagt – in der realen Welt müssen wir die meiste Zeit das spielen, was unser Publikum erwartungsgemäß am meisten schätzt. Deshalb spielen wir viele Hits nach. Die Beatles, die Carpenters. Auch neuere Sachen. Das ist ganz befriedigend.«
»Was ist mit ABBA?«, fragte ich aus einer Laune heraus und bedauerte es noch im selben Augenblick. Aber Tilo schien keinen Spott wahrzunehmen.
»Das stimmt, wir machen auch Songs von ABBA. ›Dancing Queen‹. Das kommt immer gut. Tatsächlich singe ich in ›Dancing Queen‹ auch selber ein bisschen, bei der Stimmführung. Sonja wird Ihnen allerdings sagen, dass ich die scheußlichste Stimme habe. Deshalb müssen wir zusehen, dass wir dieses Lied nur dann vortragen, wenn unser Publikum mitten im Essen ist, damit keiner die Flucht ergreifen kann!«
Er ließ sein herzhaftes Gelächter hören, und Sonja lachte ebenfalls, nur leiser. Ein Mountainbiker in einem Gewand, das wie ein schwarzer Taucheranzug aussah, flitzte an uns vorüber, und während der nächsten Minuten starrten wir alle seiner rasenden, kleiner werdenden Gestalt nach.
»Ich war mal in der Schweiz«, sagte ich schließlich. »Im Sommer vor ein paar Jahren. In Interlaken. Ich hab dort in der Jugendherberge gewohnt.«
»Ach ja, Interlaken. Schöne Gegend. Manche Schweizer spotten darüber. Das ist angeblich nur was für Touristen. Aber Sonja und ich, wir treten sehr gern dort auf. Tatsächlich ist es
was Wunderbares, an einem Sommerabend in Interlaken vor glücklichen Menschen aus aller Welt zu spielen. Hat’s Ihnen dort gefallen?«
»Ja, es war toll.«
»In Interlaken gibt es ein Restaurant, in dem wir jeden Sommer ein paar Abende lang auftreten. Wir bauen uns unter dem Baldachin auf, sodass wir zu den Esstischen hinschauen, denn an so einem Sommerabend sitzen die Leute natürlich draußen. Und während wir spielen, können wir uns die vielen Touristen anschauen, die unter den Sternen miteinander essen und reden. Und hinter den Touristen sehen wir die große weite Ebene, auf der tagsüber die Gleitschirmflieger landen, die nachts aber von den Lampen entlang dem Höheweg beleuchtet wird. Und wenn Sie den Blick noch weiter schweifen lassen, sehen Sie über der Ebene die Berge aufragen. Die Silhouetten von Eiger, Mönch, Jungfrau. Und die Luft ist angenehm warm und von der Musik erfüllt, die wir machen. Wenn wir dort sind, denke ich immer: Es ist ein
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