Bei Anbruch der Nacht
Privileg. Ich denke: Ja, es ist gut, dass wir das machen.«
»Dieses Restaurant«, sagte Sonja. »Letztes Jahr zwang uns der Manager, in Tracht aufzutreten, die volle Montur, obwohl es so heiß war. Es war sehr unangenehm, und wir sagten, was macht es denn für einen Unterschied, wieso müssen wir dieses dicke Wams, Schal und Hut tragen? Allein mit unseren Hemden sehen wir auch schick und immer noch sehr schweizerisch aus. Aber der Restaurantmanager sagt: Entweder Tracht oder gar nicht. Sie haben die Wahl, sagt er und lässt uns einfach stehen.«
»Aber Sonja, das ist doch in jedem Job so. Irgendeine Uniform gibt es immer, jeder Arbeitgeber besteht auf einer bestimmten Kleidung. Bei den Bankleuten ist es doch dasselbe!
Und in unserem Fall ist es wenigstens etwas, an das wir glauben. Schweizer Kultur. Schweizer Tradition.«
Wieder schwebte etwas irgendwie Angespanntes zwischen ihnen, aber das dauerte nur eine oder zwei Sekunden, dann lächelten beide und richteten den Blick wieder auf meine Gitarre. Ich fand, ich sollte was sagen, und deshalb sagte ich:
»Ich glaube, das würde mir gefallen. In verschiedenen Ländern aufzutreten. Bestimmt zwingt es Sie, immer wach zu sein, wirklich aufmerksam für Ihr Publikum.«
»Ja«, sagte Tilo, »das ist nicht schlecht, dass wir vor den verschiedensten Leuten auftreten. Und nicht nur in Europa. Alles in allem müssen wir viele Städte sehr gut kennen.«
»Düsseldorf zum Beispiel«, sagte Sonja. Ihr Tonfall hatte sich verändert, war irgendwie härter geworden, und ich erkannte die Person wieder, die ich im Café erlebt hatte. Tilo jedoch schien nichts zu bemerken und sagte in seiner unbekümmerten Art zu mir:
»In Düsseldorf lebt unser Sohn jetzt. Er ist in Ihrem Alter. Vielleicht ein bisschen älter.«
»In diesem Frühjahr«, sagte Sonja, »waren wir in Düsseldorf. Wir hatten dort ein Engagement für einen Auftritt. Nicht das Übliche, sondern endlich mal wieder eine Gelegenheit, unsere eigentliche Musik zu spielen. Also rufen wir unseren Sohn an, unser einziges Kind, wir rufen an, um ihm zu sagen, wir kommen in seine Stadt. Er geht nicht ans Telefon, also hinterlassen wir eine Nachricht. Wir hinterlassen viele Nachrichten. Keine Antwort. Wir kommen nach Düsseldorf, wir hinterlassen weitere Nachrichten. Wir sind da, sagen wir, wir sind in deiner Stadt. Noch immer nichts. Tilo sagt, mach dir keine Sorgen, vielleicht kommt er heute Abend ins Konzert. Aber er kommt nicht. Wir treten auf, dann fahren wir
weiter in die nächste Stadt, zu unserem nächsten Engagement.«
Tilo gab einen glucksenden Laut von sich. »Ich denke, Peter hat als Kind wohl genug von unserer Musik gehört! Der arme Junge, er musste uns ja Tag für Tag beim Proben zuhören.«
»Tja, das ist bestimmt nicht ganz einfach«, sagte ich. »Als Musiker Kinder und Beruf unter einen Hut …«
»Wir haben nur dieses eine Kind«, sagte Tilo, »es war also nicht so schlimm. Natürlich hatten wir Glück. Wenn wir auf Tour waren und ihn nicht mitnehmen konnten, haben seine Großeltern immer sehr gern ausgeholfen. Und als Peter älter war, konnten wir ihn in ein gutes Internat schicken. Wieder kamen uns die Großeltern zu Hilfe. Sonst hätten wir uns das Schulgeld nicht leisten können. Wir hatten also großes Glück.«
»Ja, wir hatten Glück«, sagte Sonja. »Nur dass Peter diese Schule hasste.«
Die gute Atmosphäre von vorhin war endgültig dahin. Um die Stimmung wieder ein bisschen zu heben, sagte ich rasch: »Jedenfalls hab ich das Gefühl, dass Ihnen beiden Ihr Beruf wirklich Spaß macht.«
»Oh ja, das stimmt«, sagte Tilo. »Er bedeutet uns alles. Trotzdem wissen wir einen Urlaub auch sehr zu schätzen. Wissen Sie, das ist unser erster echter Urlaub in drei Jahren.«
Daraufhin flammte mein schlechtes Gewissen wieder auf, und ich war drauf und dran, sie noch einmal zu einem Hotelwechsel zu überreden, aber mir war klar, wie lächerlich ein zweiter Versuch aussehen würde; ich konnte nur hoffen, dass die alte Hexe Fraser sich zusammenriss. Also sagte ich:
»Wenn Sie mögen, spiel ich Ihnen das Lied vor, an dem ich gearbeitet habe. Es ist noch nicht fertig, und eigentlich tu ich
so was nicht. Aber nachdem Sie sowieso schon einen Teil gehört haben, kann ich Ihnen genauso gut alles vorspielen, was ich bis jetzt habe.«
Das Lächeln kehrte in Sonjas Gesicht zurück. »Ja«, sagte sie, »bitte lassen Sie es uns hören. Vorhin hat es so wunderschön geklungen.«
Als ich mich einstimmte, drehten sie
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