Bei Anbruch der Nacht
war alles dunkel, aber unten auf der Terrasse brannte eine Notbeleuchtung, in deren Widerschein ich Maggies Gesicht halbwegs erkennen konnte. Sie hatte dieses verlegene Lächeln aufgesetzt, dass ich dachte, sie wird mich gleich bitten, herunterzukommen und wieder bei irgendwas zu helfen. Sie kam direkt herein, schloss die Tür hinter sich und sagte:
»Tut mir leid, Bruderherz. Aber Geoff hat heute wirklich schwer gearbeitet und ist fürchterlich müde. Und jetzt sagt er, er möchte in Ruhe seinen Film sehen?«
Genau so sagte sie es, als wäre es eine Frage, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie mich bat, mit meiner Musik aufzuhören.
»Aber ich arbeite hier an etwas Wichtigem«, sagte ich.
»Ich weiß. Aber er ist heute wirklich müde, und er sagt, er kann wegen deiner Gitarre nicht ausspannen.«
»Geoff sollte endlich mal kapieren«, sagte ich, »dass ich ebenfalls zu arbeiten habe, genau wie er.«
Meine Schwester schien darüber nachzudenken. Aber dann seufzte sie tief und sagte: »Ich glaube nicht, dass ich ihm das so weitergeben sollte.«
»Wieso nicht? Warum sagst du’s ihm nicht? Es wird Zeit, dass die Botschaft bei ihm ankommt.«
»Warum nicht? Weil er vermutlich nicht sehr erfreut darüber sein wird, darum. Und ich fürchte, er wird nicht einsehen, dass seine Arbeit und deine Arbeit so ganz auf demselben Niveau sind.«
Im ersten Moment verschlug es mir die Sprache, und ich starrte Maggie nur an. Dann sagte ich: »Du redest so einen Mist. Warum redest du so einen Mist?«
Sie schüttelte müde den Kopf, sagte aber nichts.
»Ich versteh nicht, warum du so einen Mist redest«, sagte ich. »Und ausgerechnet jetzt, wo es für mich so gut läuft?«
»Ach ja? Es läuft gut für dich?« Sie sah mich im Dämmerlicht stumm und unverwandt an. »Na gut«, sagte sie schließlich, ich werd nicht mit dir streiten.« Sie wandte sich ab und öffnete die Tür. »Komm doch runter und setz dich zu uns, wenn du magst«, sagte sie, als sie ging.
Starr vor Wut stierte ich auf die Tür, die sie hinter sich geschlossen hatte. Gedämpft drangen die Stimmen aus dem Fernseher unten in mein Bewusstsein ein, und selbst in meinem
gegenwärtigen Zustand teilte mir ein separater Teil meines Gehirns mit, dass mein Zorn sich nicht gegen Maggie, sondern gegen Geoff richten sollte, der seit dem Tag meiner Ankunft systematisch gegen mich hetzte. Wütend aber war ich auf meine Schwester. In der ganzen Zeit, die ich hier war, hatte sie nicht ein einziges Mal ein Lied von mir hören wollen, so wie Tilo und Sonja heute. Von der eigenen Schwester war das doch sicher nicht zu viel verlangt, vor allem von einer, die, wie ich mich zufällig erinnerte, als Teenager ein riesiger Musikfan gewesen war. Jetzt waren wir schon so weit, dass sie mich unterbrach, wenn ich zu arbeiten versuchte, und diesen Mist von sich gab. Jedes Mal, wenn mir wieder diese Worte »Na gut, ich werd nicht mit dir streiten« durch den Kopf gingen, durchströmte mich neuer Zorn.
Ich sprang vom Fensterbrett, verstaute meine Gitarre und warf mich auf die Matratze. Dann starrte ich eine Weile auf das Muster an der Decke. Es schien mir klar, dass ich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hierhergelockt worden war – es war ihnen nur darum gegangen, eine billige Saisonhilfe zu kriegen, einen Trottel, dem sie nicht mal was zahlen mussten. Und worum es mir ging, worum ich mich bemühte, dafür hatte meine Schwester so wenig Sinn wie ihr Schwachkopf von Ehemann. Es geschah ihnen beiden recht, wenn ich sie hier sitzen ließ und auf der Stelle nach London zurückfuhr. Eine Stunde oder länger brütete ich vor mich hin, bis ich mich ein bisschen beruhigt hatte und fand, dass es Zeit war, schlafen zu gehen.
Als ich am nächsten Tag wie gewohnt kurz nach dem morgendlichen Hochbetrieb herunterkam, redete ich nicht viel mit den beiden. Ich machte mir Toast und Kaffee, nahm mir vom übrig gebliebenen Rührei und setzte mich in eine Ecke
des Cafés. Während des Frühstücks kam mir immer wieder der Gedanke, ob ich oben in den Hügeln womöglich noch einmal Tilo und Sonja begegnete, und mir wurde klar, dass ich sogar darauf hoffte – auch wenn das hieß, dass sie mir wegen des Quartiers bei der Hexe Fraser die Leviten lasen. Aber auch wenn es dort wirklich grauenhaft war, kämen sie doch nie auf die Idee, ich hätte sie aus Gemeinheit dorthin geschickt. Auf jeden Fall gäbe es verschiedene Wege, wie ich mich aus der Affäre ziehen konnte.
Maggie und Geoff
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