Bei Anbruch der Nacht
auszeichnen?«
»Aber was wissen Sie denn über die Leute? Auch über diesen Jake. Woher wissen Sie, dass er sich nicht wirklich sehr angestrengt hat, um es dahin zu bringen, wo er jetzt ist?«
»Was soll das? Sind Sie jetzt auf einmal Jakes größter Fan?«
»Ich sage nur meine Meinung.«
»Ihre Meinung? Das ist Ihre Meinung? Na ja, wen wundert’s. Jetzt hätte ich einen Moment lang beinahe vergessen, wer Sie sind.«
»Was zum Teufel soll das jetzt heißen? Wie kommen Sie dazu, so mit mir zu sprechen?!«
Mir wurde bewusst, dass ich übers Ziel hinausgeschossen war, und ich sagte rasch: »Okay, das war jetzt übertrieben. Entschuldigung! Suchen wir dieses Büro.«
Lindy war verstummt, und bei diesem spärlichen Licht hätte ich, als ich mich zu ihr umdrehte, nicht sagen können, was in ihr vorging.
»Lindy, wo ist dieses Büro? Wir müssen es finden.«
Endlich deutete sie mit der Figur zur hinteren Seite des Saals und ging, immer noch wortlos, an den Tischen entlang voraus. An der hinteren Tür angelangt, drückte ich das Ohr daran, und nachdem drinnen alles still war, öffnete ich vorsichtig.
Wir betraten einen langen, schmalen Raum, der parallel zum Festsaal verlief. Irgendwo brannte eine schwache Notbeleuchtung, sodass wir uns auch ohne Taschenlampe halbwegs zurechtfanden. Es war offensichtlich nicht das Büro, nach dem wir suchten, sondern eine Art Anrichteraum oder behelfsmäßige Küche. Die Längsseiten nahmen Arbeitsflächen
ein, und in der Mitte war ein Gang frei, der breit genug war, dass hier das Personal ein letztes Mal Hand an die Speisen legen konnte.
Lindy schien sich auszukennen, denn sie schritt zielstrebig durch den Mittelgang. Etwa auf der Hälfte aber blieb sie unvermittelt stehen und inspizierte eines der Backbleche auf der Arbeitsfläche.
»Hey, Kekse!« Aller Ärger, alle Gekränktheit schienen verflogen. »Wie schade, dass alles unter Folie ist. Ich bin ausgehungert. Oh, schauen Sie! Was mag da wohl drunter sein?«
Sie ging ein paar Schritte weiter zu einem mächtigen kuppelförmigen Deckel, den sie abnahm. »Sehen Sie sich das nur an! Also das sieht wirklich gut aus.«
Sie beugte sich über einen drallen gebratenen Truthahn. Statt den Deckel wieder darüberzustülpen, stellte sie ihn behutsam neben der Platte ab.
»Ob sie wohl was dagegen haben, wenn ich mir ein Bein genehmige?«
»Ganz bestimmt haben sie jede Menge dagegen, Lindy. Aber was soll’s.«
»Riesiges Exemplar. Teilen wir uns ein Bein?«
»Klar, wieso nicht?«
»Okay. Also los.«
Sie streckte die Hand nach dem Truthahn aus, hielt aber mitten in der Bewegung inne und richtete sich, zu mir gewandt, wieder auf.
»Was haben Sie vorhin gemeint?«
»Womit?«
»Na, was Sie da gesagt haben. Dass es einen nicht zu wundern braucht. Meine Meinung nämlich. Was meinen Sie damit?«
»Hören Sie, es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht kränken. Ich hab nur laut gedacht, weiter nichts.«
»Laut gedacht? Wie wär’s, wenn Sie noch ein bisschen länger laut denken? Warum ist es lächerlich, wenn ich der Meinung bin, dass manche dieser Typen ihren Preis womöglich verdient haben könnten?«
»Schauen Sie, ich sage nur, dass die Preise an die falschen Leute gehen. Das ist alles. Aber Sie scheinen es ja besser zu wissen. Sie denken, es läuft anders …«
»Manche dieser Leute strengen sich verdammt an, um da hinzukommen. Und vielleicht verdienen sie eine kleine Anerkennung dafür. Das Problem bei Leuten wie Ihnen, denen Gott dieses besondere Talent mitgegeben hat, das ist, dass sie denken, sie könnten sich deswegen geradezu alles erlauben. Dass sie glauben, sie seien was Besseres, sie hätten es verdient, jedes Mal ganz vorn zu stehen. Sie sehen nicht, dass es massenhaft Leute gibt, die nicht so viel Glück hatten wie sie und sich mächtig ins Zeug legen müssen, um einen Platz in der Welt zu finden …«
»Glauben Sie vielleicht, ich lege mich nicht ins Zeug? Glauben Sie, ich liege den ganzen Tag auf der faulen Haut herum? Ich schwitze und streng mich an und reiß mir den Arsch auf, um was Gutes, was Schönes zustande zu bringen, und wer kriegt die Anerkennung? Jake Marvell! Leute wie Sie!«
»Sind Sie verrückt? Was unterstehen Sie sich! Was habe ich damit zu tun? Kriege ich vielleicht heute einen Preis? Hat vielleicht irgend jemand irgend wann mir einen verdammten Preis verliehen? Habe ich je, wenigstens in der Schule, ein einziges windiges Zeugnis fürs Singen oder Tanzen oder sonst einen Scheiß gekriegt? Nein!
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