Bei Anbruch der Nacht
Schulter. »Ist das nicht schön hier? Die Schlüsselkarte fand ich im Schlitz, als ich zum ersten Mal herkam.«
Eine Weile waren wir still, und ich war fast am Einschlafen. Aber plötzlich fiel mir etwas ein.
»Hey, Lindy.«
»Hmm?«
»Lindy. Was ist aus dem Preis geworden?«
»Preis? Ah, der Preis! Ich hab ihn versteckt. Was hätte ich sonst tun sollen? Sie haben ihn wirklich verdient, diesen Preis.
Ich hoffe, es bedeutet Ihnen was, die Verleihung heute Nacht. Wissen Sie, Süßer, das war nicht nur eine Laune. Ich habe darüber nachgedacht. Ich hab wirklich gründlich darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, ob es Ihnen groß was bedeutet. Ob Sie sich in zehn, zwanzig Jahren überhaupt noch daran erinnern.«
»Ganz bestimmt. Und es bedeutet mir wirklich viel. Aber Lindy, Sie sagten, Sie haben ihn versteckt – bloß wo? Wo haben Sie ihn versteckt?«
»Hmm?« Sie schlief schon fast wieder. »An dem einzigen Platz, an dem es ging. Im Truthahn.«
»Sie haben ihn in den Truthahn getan?«
»Das hab ich schon mal gemacht, mit neun, genau dasselbe. Damals hab ich den Glowball meiner Schwester in einem Truthahn versteckt. Das hat mich jetzt auf die Idee gebracht. Geistesgegenwärtig, nicht?«
»Ja, allerdings.« Ich war bleiern müde, zwang mich aber, mich zu konzentrieren. »Aber Lindy, wie gut haben Sie ihn versteckt? Ich meine, werden ihn die zwei Bullen inzwischen gefunden haben?«
»Wüsste nicht, wie. Es stand nichts raus, wenn Sie das meinen. Warum sollten sie da nachschauen? Ich hab ihn hinter meinem Rücken hineingeschoben, so. Immer tiefer hinein. Ich hab mich dabei nicht umgedreht, sonst hätten die beiden Knaben sich ja gefragt, was ich tue. Es war nicht nur eine Laune, wissen Sie. Dass ich beschlossen habe, Ihnen diesen Preis zu verleihen. Hab wirklich lang und gründlich darüber nachgedacht. Natürlich hoffe ich, dass es Ihnen was bedeutet. Jesus, ich muss schlafen.«
Wieder sackte sie an meiner Seite zusammen, und gleich darauf gab sie ein leises Schnarchen von sich. Besorgt um den
Erfolg ihrer Operation, bettete ich ihren Kopf vorsichtig um, sodass ihre Wange nicht an meine Schulter drückte. Dann dämmerte auch ich weg.
Irgendwann wachte ich mit einem Ruck wieder auf und sah im großen Fenster vor uns die ersten Anzeichen des Morgens. Weil Lindy noch fest schlief, wand ich mich vorsichtig unter ihr hervor, stand auf und reckte die Arme. Ich trat ans Fenster und blickte in den blassen Himmel hinaus, auf die Schnellstraße tief unten. Ich versuchte mich zu erinnern, welcher Gedanke mir im Augenblick des Einschlafens durch den Kopf gegangen war, aber mein Hirn war umnebelt und erschöpft. Plötzlich fiel es mir doch wieder ein, und ich ging zum Sofa und rüttelte Lindy wach.
»Was ist? Was ist? Was wollen Sie?«, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen.
»Lindy«, sagte ich. »Der Preis. Wir haben den Preis vergessen.«
»Hab ich doch schon gesagt. Er ist in diesem Truthahn.«
»Ja, eben, hören Sie zu. Diese Bullen sind vielleicht nicht auf die Idee gekommen, im Truthahn nachzuschauen, aber früher oder später wird ihn jemand finden. Vielleicht wird das Vieh genau in diesem Moment tranchiert!«
»Na und? Dann finden sie das Teil eben. Was macht das?«
»Sie finden das Teil, und sie berichten von ihrem tollen Fund. Dann fällt diesem Bullen wieder ein, dass er uns in der Küche getroffen hat. Direkt neben dem Truthahn.«
Lindy schien ein wenig wacher zu werden. »Ja«, sagte sie. »Versteh schon, was Sie meinen.«
»Solange die Trophäe im Truthahn ist, können sie uns mit dem Verbrechen in Verbindung bringen.«
»Verbrechen? Wieso denn Verbrechen?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Jedenfalls müssen wir noch mal runter und das Teil aus dem Truthahn holen. Wo wir es nachher lassen, ist egal. Aber es darf nicht dort bleiben, wo es jetzt ist.«
»Süßer, sind Sie sicher, dass wir das tun müssen? Ich bin wahnsinnig müde.«
»Wir müssen, Lindy. Wenn wir nichts unternehmen, kriegen Sie Ärger. Und vergessen Sie nicht, die Presse wird eine Riesensache draus machen.«
Lindy dachte darüber nach, dann richtete sie sich ein Stück auf und sah mich von unten her an. »Na gut«, sagte sie. »Gehen wir noch mal runter.«
Diesmal drangen Staubsaugergeräusche und Stimmen durch die Korridore, aber wir schafften es trotzdem bis zum Festsaal, ohne jemandem zu begegnen. Inzwischen war es heller geworden, man sah viel mehr, und Lindy deutete auf die Mitteilung neben der Doppeltür, die, in
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