Bei Anbruch der Nacht
Aber als ich vorhin an Ihrer Tür vorbeikam, sah ich, dass Sie noch Licht haben, und dachte, Sie können vielleicht nicht schlafen, wie ich.«
»Stimmt schon. Hier drin ist es schwierig, feste Zeiten einzuhalten.«
»Ja, das ist wahr.«
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Klar. Alles ist gut. Sehr gut.«
Inzwischen war mir klar, dass sie nicht betrunken war, aber was sonst mit ihr los war, hätte ich nicht sagen können. Sie hatte wahrscheinlich auch sonst nichts genommen, sondern war nur eigenartig wach und wegen irgendwas anscheinend so aufgekratzt, dass sie es unbedingt erzählen musste.
»Ist wirklich alles okay?«, fragte ich noch einmal.
»Ja, wirklich, aber … Hören Sie, Süßer, ich hab hier etwas, und ich möchte es Ihnen gern geben.«
»Ach ja? Und was mag das sein?«
»Ich will’s nicht sagen. Es soll eine Überraschung sein.«
»Klingt interessant. Dann komme ich rüber und hole es, vielleicht nach dem Frühstück?«
»Ich hatte eigentlich gehofft, Sie kommen jetzt gleich. Ich meine, es ist hier, und Sie sind wach und ich ebenfalls. Ich weiß, es ist spät, aber … Hören Sie, Steve, wegen vorhin, was da passiert ist. Mir scheint, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.«
»Vergessen Sie’s. Ich nehm das nicht persönlich …«
»Sie waren sauer, weil Sie dachten, ich mag Ihre Musik nicht. Aber das stimmt nicht. Es stimmt ganz und gar nicht, im Gegenteil, es ist das genaue Gegenteil. Was Sie mir vorgespielt haben, diese Fassung von ›Nearness of You‹? Ich krieg das seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Nein, nicht aus dem Kopf, ich meine das Herz. Ich kriege es nicht mehr aus dem Herzen .«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber sie redete schon weiter, noch bevor mir etwas einfiel.
»Kommen Sie rüber? Jetzt gleich? Dann erkläre ich Ihnen alles richtig. Und vor allem … Nein, nein, ich sage nichts. Es
soll eine Überraschung werden. Kommen Sie rüber, dann sehen Sie’s. Und bringen Sie Ihre CD noch mal mit. Machen Sie das?«
Kaum hatte sie die Tür geöffnet, nahm sie mir die CD aus der Hand, als wäre ich ein Lieferant, aber gleich darauf packte sie mich am Handgelenk und zog mich ins Zimmer. Sie trug denselben prächtigen Morgenrock wie zuvor, sah jetzt aber ein bisschen weniger tadellos aus: Auf der einen Seite hing er tiefer herab als auf der anderen, und hinten im Nacken, oberhalb des Halsausschnitts, hing etwas Fusseliges am Verband.
»Sie waren anscheinend auf einem Ihrer Nachtspaziergänge«, sagte ich.
»Ich bin so froh, dass Sie noch auf sind. Ich weiß nicht, ob ich bis morgen früh hätte warten können. Jetzt hören Sie, ich habe, wie gesagt, eine Überraschung für Sie. Hoffentlich gefällt’s Ihnen – ich glaube eigentlich schon. Aber erst müssen Sie es sich gemütlich machen. Wir hören uns noch mal Ihr Stück an. Warten Sie, welche Nummer war es?«
Ich setzte mich auf meinen üblichen Platz auf dem Sofa und sah zu, wie sie mit der Anlage beschäftigt war. Das Licht im Zimmer war gedämpft und die Temperatur angenehm kühl. Dann setzte mit ziemlicher Lautstärke »The Nearness of You« ein.
»So laut? Wird das nicht unsere Nachbarn stören?«, fragte ich.
»Zum Teufel mit ihnen. Wir zahlen genug für den Laden hier, das ist nicht unser Problem. Jetzt pst! Hören Sie, hören Sie!«
Wieder begann sie sich zur Musik zu wiegen, diesmal aber hörte sie nicht nach der ersten Strophe auf, im Gegenteil, sie
schien überhaupt immer mehr in die Musik einzusinken, je länger sie dauerte; die Arme hielt sie wie um einen imaginären Tanzpartner geschlungen. Als das Stück zu Ende war, stoppte sie die CD und stand reglos, mit dem Rücken zu mir, am anderen Ende des Raums. So verharrte sie, sehr lange, schien mir, bis sie endlich zu mir zurückkehrte.
»Ich finde keine Worte«, sagte sie. »Es ist erhebend. Sie sind ein großartiger, wunderbarer Musiker. Sie sind ein Genie.«
»Oh, danke.«
»Das war mir schon beim ersten Mal klar. Das ist die reine Wahrheit. Deswegen habe ich vorhin so reagiert. So herablassend, so, als gefiele es mir nicht.« Sie setzte sich mir gegenüber und seufzte. »Tony hat mir deswegen oft Vorwürfe gemacht. Ich hatte das schon immer, anscheinend schaff ich es nicht, es abzulegen. Ich begegne jemandem, der wirklich, Sie wissen schon, sehr, sehr begabt ist, jemand, der in der Hinsicht einfach von Gott gesegnet ist, und ich kann nicht anders – mein erster Impuls ist so, wie ich’s mit Ihnen gemacht habe. Es ist einfach – ich weiß
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