Bei Anbruch der Nacht
sie doch nicht ablehnen, oder, Steve?«
»Ich lehne sie nicht ab, Lindy. Die Idee, die Ehre, alles, das nehme ich alles gern entgegen, und ich freue mich wirklich sehr darüber. Aber dieses, die eigentliche Trophäe. Wir müssen sie zurückbringen. Genau dorthin, wo Sie sie gefunden haben.«
»Ah, scheiß drauf! Wen kratzt das denn?«
»Lindy, Sie haben nicht zu Ende gedacht. Was ist, wenn das rauskommt? Können Sie sich vorstellen, wie sich die Presse draufstürzen wird? Dieses Gerede, der Skandal? Was wird Ihr Publikum sagen? Kommen Sie. Wir gehen jetzt gleich runter, bevor die ersten Leute aufwachen. Sie zeigen mir ganz genau, wo Sie das Teil gefunden haben.«
Sie wirkte auf einmal wie ein Kind, das ausgeschimpft wurde. Dann seufzte sie und sagte: »Wahrscheinlich haben Sie recht, Süßer.«
Als wir uns einig waren, dass wir den Preis zurückbringen mussten, wurde Lindy ziemlich besitzergreifend und hielt ihn
die ganze Zeit fest an die Brust gedrückt, während wir durch die Gänge des riesigen, schlafenden Hotels hasteten. Sie führte mich verborgene Treppen hinab, durch abgelegene Korridore, vorbei an Saunen und Selbstbedienungsautomaten. Wir sahen und hörten keine Menschenseele. Dann flüsterte Lindy: »Es war hier entlang«, und wir stemmten eine schwere Tür auf und traten in einen finsteren Raum.
Als ich sicher war, dass wir allein waren, schaltete ich die Taschenlampe ein, die ich aus Lindys Zimmer mitgenommen hatte, und ließ den Lichtstrahl umherwandern. Wir waren im Festsaal; mit dem Tanzen hätte man momentan allerdings Schwierigkeiten gehabt, denn es standen lauter Tische herum, jeder festlich mit weißem Leinen gedeckt und alle mit passenden Stühlen. In der Mitte des Saals hing ein Kronleuchter an der Decke. Am anderen Ende war eine erhöhte Bühne, vermutlich geräumig genug für eine ziemlich große Show, aber jetzt waren die Vorhänge davor zugezogen. Jemand hatte mitten im Raum eine Stehleiter zurückgelassen, und an der Wand lehnte aufrecht ein Staubsauger.
»Das scheint eine größere Feier zu werden«, sagte sie. »Vier-, fünfhundert Leute?«
Ich ging ein Stück in den Raum hinein und leuchtete mit der Taschenlampe umher. »Vielleicht soll es hier stattfinden. Wo sie Jake den Preis überreichen werden.«
»Ja, sicher. Wo ich das hier gefunden habe« – sie hielt die Figur hoch -, »da war noch mehr. Bester Nachwuchsmusiker. R&B-Album des Jahres. Solche Sachen. Das wird eine Riesenveranstaltung.«
Nachdem sich meine Augen angepasst hatten, nahm ich mehr von meiner Umgebung wahr, obwohl die Taschenlampe nicht besonders stark war. Und wie ich so dastand und zur
Bühne hinaufblickte, konnte ich mir einen Moment lang genau vorstellen, wie es in ein paar Stunden aussehen würde. Ich sah die ganzen Leute mit ihren schicken Klamotten, die Leute von der Plattenfirma, die Spitzenpromoter, vereinzelte Promis aus dem Showbusiness, die lachen und sich gegenseitig loben; der kriecherisch aufrichtige Applaus bei jedem Sponsorennamen, den der Zeremonienmeister erwähnt; noch mehr Applaus, diesmal mit Jubel und Hochrufen, wenn die Preisträger aufmarschieren. Ich stellte mir Jake Marvell auf dieser Bühne vor, wie er seine Trophäe in der Hand hält, dasselbe selbstgefällige Grinsen im Gesicht wie damals in San Diego, wenn er ein Solo fertig hatte und das Publikum applaudierte.
»Vielleicht ist es falsch«, sagte ich. »Vielleicht ist es doch nicht notwendig, das Ding hier zurückzugeben. Vielleicht sollten wir es in den Müll werfen. Und alle anderen Preise, die Sie gefunden haben, gleich dazu.«
»Ja?« Lindy klang ratlos. »Ist das Ihr Ernst, Süßer?«
Ich seufzte auf. »Nein, ich glaub nicht. Aber es wäre … befriedigend, oder? Alle diese Auszeichnungen, ab mit ihnen in den Müll. Ich wette, dass jeder Einzelne von diesen Gewinnern ein Hochstapler ist. Ich wette, sie bringen alle miteinander nicht genügend Talent mit, um einen Hotdog zu füllen.«
Ich wartete, ob Lindy etwas darauf sagte, aber es kam nichts. Als sie dann doch etwas sagte, war ein neuer Ton in ihrer Stimme, etwas Angespanntes.
»Woher wissen Sie denn, dass nicht ein paar von den Typen doch okay sind? Woher wissen Sie, dass nicht ein paar von ihnen den Preis doch verdient haben?«
»Woher ich das weiß?« Ich spürte eine jähe Wut in mir aufwallen.
»Woher ich das weiß? Na, überlegen Sie doch! Eine Jury hält Jake Marvell für den herausragenden Jazzmusiker des Jahres. Wen werden sie wohl sonst noch
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