Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
runterzukommen, um was zu essen. Wir wollten uns schon von dieser Tarte hier was nehmen, aber dann dachten wir, das können wir nicht
tun, sie ist sicher für einen besonderen Anlass, und es wäre doch eine Schande.«
    »Das Hotel hat wirklich einen guten Zimmerservice«, sagte der Polizist. »Rund um die Uhr.«
    Ich zerrte Lindy am Ärmel, doch sie schien jetzt von der häufig erwähnten Manie der Kriminellen befallen, sich aus reinem Mutwillen in die Gefahr des Erwischtwerdens zu begeben.
    »Und Sie haben sich vorhin was bestellt, ja?«
    »Klar.«
    »Und war es gut?«
    »Ziemlich gut. Ich empfehle Ihnen, dasselbe zu tun.«
    »Jetzt lassen wir die Herren doch ihre Arbeit tun«, sagte ich und zog sie wieder am Arm. Aber sie rührte sich noch immer nicht.
    »Herr Wachtmeister, darf ich Sie was fragen?«, sagte sie. »Erlauben Sie?«
    »Nur zu.«
    »Weil Sie doch davon gesprochen haben, ob uns vielleicht was Komisches aufgefallen ist. Wie steht es denn mit Ihnen – fällt Ihnen was Komisches auf? Ich meine: an uns?«
    »Ich weiß nicht, was Sie meinen, gnädige Frau.«
    »Zum Beispiel, dass wir beide komplett einbandagierte Gesichter haben? Ist Ihnen das aufgefallen?«
    Der Polizist musterte uns aufmerksam, wie um ihre Aussage zu überprüfen. Dann sagte er: »Offen gestanden, es ist mir aufgefallen, ja. Aber ich wollte keine persönlichen Bemerkungen machen.«
    »Oh, verstehe«, antwortete Lindy. Und zu mir gewandt sagte sie: »Wie rücksichtsvoll von ihm, nicht?«
    »Jetzt los«, sagte ich und zog sie ziemlich unsanft mit mir
fort. Während wir zum Ausgang strebten, spürte ich im Rücken die Blicke der beiden Männer.

    Äußerlich betont ruhig, durchquerten wir den Festsaal. Aber kaum waren wir durch die großen Schwingtüren, gaben wir der Panik nach und verfielen beinahe in Laufschritt. Da unsere Arme nach wie vor ineinandergehakt waren, stolperten und kollidierten wir ständig, während ich hinter Lindy her durch das Gebäude hastete. Irgendwann zerrte sie mich in einen Lastenaufzug, und erst als die Türen sich schlossen und die Kabine sich in Bewegung setzte, ließ sie mich los, lehnte sich an die Metallwand und gab sonderbare Töne von sich, die, wie mir klar wurde, das Geräusch von hysterischem Gelächter hinter Verbänden waren.
    Als wir den Aufzug verließen, hängte sie sich wieder bei mir ein. »Okay, jetzt sind wir in Sicherheit«, sagte sie. »Jetzt möchte ich Ihnen was zeigen. Das ist wirklich was. Sehen Sie?« Sie hielt eine Schlüsselkarte hoch. »Schauen wir mal, wohin uns das führt.«
    Sie benutzte die Karte, um uns eine Tür mit der Aufschrift »Privat« zu öffnen, dann eine Tür, auf der »Gefahr. Nicht betreten« stand. Dann befanden wir uns in einer Umgebung, in der es nach Farbe und Mörtel roch. An den Wänden und von der Decke herab hingen Kabel, der kalte Estrich war übersät mit Spritzern und Flecken. Wir sahen genug, denn eine Seite des Raums war vollständig verglast und unbeeinträchtigt von Vorhängen oder Rollläden, und die starke Beleuchtung draußen warf ein gelbliches Licht in den Raum. Wir waren hier noch höher als in unserer Etage: Wie aus einem Helikopter blickten wir hinaus auf die Schnellstraße und das Gelände ringsum.

    »Das wird eine neue Präsidentensuite«, sagte Lindy. »Ich bin sehr gern hier oben. Noch keine Lichtschalter, kein Teppich. Aber allmählich wird was draus. Bei meinem ersten Besuch hier war alles noch viel unfertiger. Jetzt kann man sich wirklich schon vorstellen, wie das hier mal aussehen wird. Es gibt sogar schon eine Couch.«
    Mitten im Raum erhob sich eine klobige, vollständig mit einem hellen Laken verhüllte Form. Lindy ging darauf zu wie auf einen alten Freund und ließ sich müde hineinfallen.
    »Es ist meine Fantasie«, sagte sie, »aber irgendwie glaub ich dran. Und zwar, dass dieser Raum hier nur für mich gebaut wird. Deswegen muss ich immer herkommen. Das Ganze hier. Sie helfen mir nämlich. Sie helfen mir, meine Zukunft aufzubauen. Vor Kurzem war hier noch das reinste Chaos. Aber schauen Sie es sich jetzt an. Es nimmt Form an. Es wird großartig.« Sie klopfte neben sich auf das Sofa. »Kommen Sie her, Süßer, ruhen Sie sich aus. Ich bin fix und fertig. Sie sicher auch.«
    Das Sofa – oder was immer sich unter dem Tuch verbarg – war überraschend bequem, und kaum hatte ich mich hineinsinken lassen, überkamen mich Wellen von Müdigkeit.
    »Mann, bin ich müde«, sagte Lindy im selben Moment und sank mit ganzem Gewicht an meine

Weitere Kostenlose Bücher