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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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nicht, ich glaube, es ist Eifersucht. Wie bei bestimmten Frauen, die man manchmal trifft, – die irgendwie, na ja, unscheinbar sind, ja? Es kommt eine schöne Frau ins Zimmer, und sie sind sofort voller Wut, sie wollen ihr direkt die Augen auskratzen. So bin ich, wenn ich jemanden wie Sie treffe. Vor allem wenn es unerwartet ist, so wie heute, und ich nicht drauf gefasst bin. Ich meine, da sitzen Sie hier auf meinem Sofa, im einen Moment denke ich noch, Sie sind einfach Publikum, und im nächsten Moment sind Sie … na, was anderes. Verstehen Sie, was ich meine? Jedenfalls versuche ich Ihnen zu erklären, warum ich mich vorhin so schlecht benommen habe. Sie hatten allen Grund, sauer auf mich zu sein.«

    Eine Zeit lang hing die nächtliche Stille zwischen uns. »Also, danke«, sagte ich schließlich. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie das sagen.«
    Sie sprang plötzlich auf. »Jetzt die Überraschung! Warten Sie einfach, bleiben Sie, wo Sie sind!«
    Sie ging hinüber in den angrenzenden Raum, und ich hörte sie Schubladen öffnen und schließen. Als sie zurückkam, trug sie mit beiden Händen etwas vor sich her, aber ich konnte nicht sehen, was dieses Etwas war, denn sie hatte ein Seidentuch darübergebreitet. In der Mitte des Zimmers hielt sie inne.
    »Steve, jetzt kommen Sie und nehmen dies hier entgegen. Das wird eine Verleihung.«
    Ich war verdutzt, stand aber folgsam auf. Als ich auf sie zuging, zog sie das Tuch herunter und hielt mir eine blitzende Messingfigur entgegen.
    »Das haben Sie sich voll und ganz verdient. Deshalb gehört es Ihnen. Jazzmusiker des Jahres. Vielleicht aller Zeiten. Herzlichen Glückwunsch.«
    Sie legte es in meine Hände und gab mir einen vorsichtigen Kuss durch den Verband auf die Wange.
    »Oh, danke. Das ist allerdings eine Überraschung! Hey, das sieht hübsch aus. Was ist das? Ein Alligator?«
    »Ein Alligator? Na hören Sie mal! Das sind zwei süße kleine Engel, die sich küssen.«
    »Ah ja, jetzt erkenn ich’s. Also vielen Dank, Lindy. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das ist wunderschön.«
    »Ein Alligator!«
    »Tschuldigung. Das ist nur, weil dieser kleine Bursche hier das eine Bein so weit ausgestreckt hat. Jetzt seh ich es schon. Es ist wirklich schön.«
    »Es gehört Ihnen. Sie verdienen es.«

    »Ich bin gerührt, Lindy, wirklich. Und was steht denn da unten? Ich hab meine Brille nicht dabei.«
    »Da steht: Jazzmusiker des Jahres. Was denn sonst?«
    »Das steht da?«
    »Ja, klar, das steht da.«
    Die Figur in der Hand, kehrte ich zum Sofa zurück, setzte mich und dachte kurz nach. »Sagen Sie, Lindy«, sagte ich schließlich. »Was Sie mir da geschenkt haben. Es kann nicht sein, oder, dass es Ihnen auf einem Ihrer Mitternachtsspaziergänge begegnet ist?«
    »Doch. Doch, das kann sein.«
    »Verstehe. Und es kann nicht sein, oder, dass das die echte Auszeichnung ist? Ich meine, die echte Figur, die sie Jake überreichen wollen?«
    Lindy gab sekundenlang keine Antwort, sondern stand nur stocksteif da. Dann sagte sie:
    »Natürlich ist es die echte Auszeichnung. Welchen Sinn hätte es, Ihnen irgendeinen alten Krempel zu überreichen? Beinahe wäre eine Ungerechtigkeit passiert, aber jetzt hat die Gerechtigkeit obsiegt. Das ist alles, was zählt. Hey, na kommen Sie, Süßer. Sie wissen, dass Sie derjenige sind, der diese Auszeichnung verdient hat.«
    »Ich verstehe Ihren Standpunkt. Es ist wirklich lieb von Ihnen. Aber … na ja, irgendwie ist das Diebstahl, nicht?«
    »Diebstahl? Sagten Sie nicht selber, dass der Typ nichts taugt? Ein Aufschneider ist? Und Sie sind ein Genie. Wer also versucht hier wem was zu stehlen?«
    »Lindy, wo genau haben Sie das gefunden?«
    Sie zuckte die Achseln. »Ach, irgendwo. Wo ich eben so unterwegs bin. In einem – Büro würden Sie es vielleicht nennen.«
    »Heute Nacht? Haben Sie’s heute Nacht mitgehen lassen?«

    »Ja natürlich heute Nacht. Letzte Nacht wusste ich ja noch nichts von Ihrem Preis.«
    »Ah ja, klar. Was würden Sie sagen – war das etwa vor einer Stunde?«
    »Eine Stunde. Vielleicht zwei. Wer weiß? Ich war eine Weile draußen. Eine Zeit lang war ich in meiner Präsidentensuite.«
    »Jesus.«
    »Na kommen Sie, wen kümmert’s denn? Warum zerbrechen Sie sich den Kopf? Es kommt ihnen dieses hier abhanden – na gut, werden sie sich halt ein neues besorgen. Wahrscheinlich haben sie irgendwo einen ganzen Schrank voll davon. Ich habe Ihnen hier eine Auszeichnung überreicht, die Sie verdienen. Sie werden

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