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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Stimme merklich angespannter. Und ich hätte fast gesagt: »Hallo? Höre ich da etwa einen Anflug von Irritation, wenn der Name des Liebsten fällt?« Aber ich sagte es nicht. Ich sagte nur: Schöne Grüße, und sie erwähnte ihn nicht mehr. Wahrscheinlich hatte ich es mir sowieso nur eingebildet. Sicher ging es ihr nur darum, dass ich sagte, wie dankbar ich ihm sei.
    Kurz bevor sie auflegte, sagte ich: »Hab dich lieb«, auf diese schnelle, routinierte Art, wie man es am Ende eines Telefonats mit der Ehefrau sagt. Ein paar Sekunden war Stille, dann sagte sie es ebenfalls, auf die gleiche routinierte Weise. Dann war sie weg. Gott weiß, was das heißen sollte. Jetzt kann ich wohl nichts anderes tun als warten, bis dieser Verband herunterkommt. Und dann? Vielleicht hat Lindy recht. Vielleicht muss ich mir eine neue Perspektive suchen, wie sie sagt, und das Leben hat wirklich viel mehr zu bieten als nur die Liebe zu jemandem. Vielleicht ist jetzt wirklich ein Wendepunkt für mich, und die Oberliga wartet. Vielleicht hat sie recht.

Cellisten

    Z um dritten Mal seit der Mittagspause spielten wir »The Godfather«, und ich sah mir die Touristen auf der Piazza an, weil ich wissen wollte, wie viele von ihnen wohl schon beim letzten Mal da gewesen waren. Die Leute stört es nicht, wenn sie einen Favoriten öfter hören, aber allzu oft sollte das auch nicht passieren, sonst denken sie, dass man doch ein recht bescheidenes Repertoire hat. Stücke zu wiederholen ist um diese Zeit des Jahres normalerweise okay. Die Vorboten der Herbstwinde und der absurde Preis für einen Kaffee sorgen für eine ziemlich hohe Fluktuation der Gäste. Jedenfalls studierte ich die Gesichter auf der Piazza, und dabei entdeckte ich Tibor.
    Er winkte mit dem Arm, und ich dachte zuerst, er winkt uns, aber dann wurde mir klar, dass er einen Kellner auf sich aufmerksam machen wollte. Er sah älter aus, hatte auch ein bisschen zugenommen, war aber sonst nicht schwer zu erkennen. Weil ich keine Hand vom Saxofon nehmen konnte, um direkt auf ihn zu deuten, stieß ich Fabian, den Akkordeonisten neben mir, mit dem Ellenbogen an und nickte zu Tibor hinüber. Als ich mich jetzt in unserer Band umsah, wurde mir klar, dass aus
dem Sommer, in dem wir Tibor kennengelernt hatten, von unserer Truppe außer Fabian und mir niemand mehr übrig war.
    Okay, das ist jetzt schon sieben Jahre her, aber ein Schock war es trotzdem. Wenn man jeden Tag so zusammen spielt, kommt einem die Band mit der Zeit wie eine Familie vor, die Kollegen wie Brüder. Und wenn ab und zu jemand weggeht, stellt man sich gern vor, dass man für immer in Kontakt bleiben wird, dass er Postkarten schreibt, aus Venedig oder London oder wohin immer es ihn verschlägt, vielleicht ein Polaroid von der neuen Band schickt, in der er jetzt spielt, so als schriebe er nach Hause in sein Dorf. Deshalb ist ein Moment wie dieser eine unwillkommene Erinnerung daran, wie schnell sich immer alles verändert. Wie die besten Freunde von heute gleich darauf vergessene Fremde sind, die, in alle Ecken Europas versprengt, auf Plätzen und in Cafés, die man nie zu Gesicht bekommen wird, »The Godfather« und »Autumn Leaves« spielen.
    Als wir mit unserem Stück fertig waren, warf mir Fabian einen unwirschen Blick zu: Er war sauer, dass ich ihn während seiner »Spezialpassage« gestupst hatte – das ist nicht direkt ein Solo, aber einer der seltenen Augenblicke, in denen die Geige und die Klarinette mal aussetzen und ich nur leise Töne im Hintergrund blase, während er mit seinem Akkordeon das Stück zusammenhält. Als ich mich zu rechtfertigen versuchte und auf Tibor deutete, der jetzt unter einem Sonnenschirm in seinem Kaffee rührte, schien Fabian Mühe zu haben, sich an ihn zu erinnern. Aber schließlich sagte er:
    »Ah, der Knabe mit dem Cello. Ob er noch immer mit dieser Amerikanerin zusammen ist?«
    »Sicher nicht«, antwortete ich. »Weißt du nicht mehr? Das war doch schon damals zu Ende.«

    Fabian zuckte die Achseln und wandte seine Aufmerksamkeit seinem Notenblatt zu, dann fingen wir schon mit dem nächsten Stück an.
    Ich war enttäuscht, dass Fabian nicht mehr Interesse zeigte, aber er ist wohl nie einer von denen gewesen, denen das Schicksal des jungen Cellisten besonders am Herzen lag. Wissen Sie, Fabian hat immer nur in Bars und Cafés gespielt. Anders als Giancarlo, unser damaliger Geiger, oder Ernesto, der unser Bassist war. Die beiden hatten formellen Unterricht gehabt, und sie fanden einen wie

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