Bei Anbruch der Nacht
Sie getrennt sind, Sie und Ihre Frau.«
»Hab ich gesagt, wir sind getrennt? Hab ich das gesagt?«
»Ich dachte …«
»Ich sagte, wir sind im Moment nicht zusammen. Das ist nicht dasselbe.«
»Es klingt, als wäre es dasselbe …«
»Ist es aber nicht. Es ist nur was Vorübergehendes, wir probieren es aus. Oh, ich hab was gefunden. Da ist was drin. Das ist es.«
»Warum holen Sie’s nicht raus, Süßer?«
»Ja, was glauben Sie denn, genau das versuche ich doch! Jesus! Mussten Sie das wirklich so tief hineinstecken?«
»Pst! Da draußen ist wer!«
Wie viele es waren, ließ sich zuerst schwer sagen. Aber die Stimme kam näher, und nun war klar, dass es nur einer war, ein Mann, der ohne Punkt und Komma in ein Mobiltelefon redete. Jetzt begriff ich auch schlagartig, wo wir waren. Ich hatte gedacht, wir seien in irgendeinen Bereich in den Kulissen geraten, tatsächlich aber standen wir direkt auf der Bühne,
und der Vorhang vor meinem Gesicht war das Einzige, das uns vom Festsaal trennte. Und der telefonierende Mann kam durch den Festsaal auf die Bühne zu.
Flüsternd wies ich Lindy an, die Taschenlampe auszuschalten. Es wurde finster. Sie sagte mir ins Ohr: »Nichts wie weg hier«, und ich hörte sie davonschleichen. Ich versuchte noch einmal, die Messingfigur aus dem Truthahn herauszuziehen, aber ich fürchtete, Geräusche zu verursachen, abgesehen davon bekam ich das Ding nicht richtig zu fassen – es ging einfach nicht.
Die Stimme kam immer näher, bis ich den Eindruck hatte, dass der Typ direkt vor mir stand.
»… ist doch nicht mein Problem, Larry. Die Logos müssen auf diese Menükarte. Ist mir egal, wie du das schaffst. Okay, dann mach es eben selber. Richtig, du machst es selber, und du bringst sie persönlich vorbei, ist mir egal, wie du das hinkriegst. Bring sie einfach heute Vormittag her, allerspätestens bis halb zehn. Wir brauchen das Zeug hier. Die Tische sehen gut aus. Doch, es sind genügend Tische, glaub mir. Okay. Ja, ich werd nachsehen. Okay, okay. Ja! Ich tu’s jetzt gleich!«
Bei den letzten Sätzen hatte sich die Stimme zur einen Seite des Raums bewegt. Anscheinend hatte er an der Wand einen Schalter betätigt, denn jetzt ging direkt über mir ein starker Scheinwerfer an, außerdem hatte ein Surren eingesetzt, wie von einer Klimaanlage. Aber ich merkte bald, dass es keine Klimaanlage war, sondern die Vorhänge, die sich in Bewegung gesetzt hatten.
Es ist mir in meiner Laufbahn zweimal passiert, dass ich auf einer Bühne stehe und ein Solo zu spielen habe, und plötzlich wird mir bewusst, dass ich nicht weiß, wann mein Einsatz ist, in welcher Tonart ich bin, wie die Harmonien wechseln. Beide
Male bin ich vollkommen erstarrt, eingefroren wie ein Standbild im Film, bis einer der anderen einspringt und mich rettet. In den mehr als zwanzig Jahren, die ich beruflich Musik mache, ist mir das nur zweimal passiert. Jedenfalls: Als jetzt über mir der Scheinwerfer anging und die Vorhänge zur Seite glitten, reagierte ich ganz genauso. Ich erstarrte einfach. Und ich fühlte mich merkwürdig distanziert. Ich verspürte sogar eine leise Neugier darauf, was ich zu sehen bekäme, sobald die Vorhänge offen waren.
Was ich zu sehen bekam, war der Festsaal, und erst aus der günstigen Perspektive der Bühne konnte ich ermessen, wie die Tische aufgestellt waren, nämlich in zwei Parallelreihen bis ganz nach hinten. Wegen des Scheinwerfers über mir lag der Raum ein wenig im Schatten, aber der Kronleuchter an der Decke war noch zu erkennen.
Der telefonierende Mann war ein kahler, übergewichtiger Typ mit hellgrauem Anzug und offen stehendem Hemd. Offensichtlich hatte er sich, nachdem er den Schalter betätigt hatte, von der Wand gleich wieder fortbewegt, denn er war jetzt mehr oder minder auf gleicher Höhe mit mir. Er hielt sich das Telefon ans Ohr, und nach seinem Ausdruck zu urteilen, hätte man vermutet, dass er mit besonderer Aufmerksamkeit seinem Gesprächspartner zuhörte. Aber das schien mir nicht der Fall zu sein, denn seine Augen waren auf mich geheftet. Er sah mich an, und ich sah ihn an, und das hätte endlos so weitergehen können, hätte er nicht – vielleicht als Antwort auf die Frage, wieso er nichts mehr sagte – ins Telefon gesprochen:
»Schon gut. Schon gut. Es ist ein Mensch.« Es trat eine Pause ein, dann sagte er: »Ich dachte im ersten Moment, es ist was anderes. Aber es ist ein Mensch. Mit einbandagiertem
Kopf, im Morgenrock. Das ist alles, ich seh es jetzt. Nur dass
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