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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Noch während er es sagte, wusste ich, dass er Scheiße redet, aber was konnte ich tun? Es war wenigstens eine Hoffnung. Bradley hat das ausgenutzt, er hat es ausgenutzt, so ist er, wissen Sie? Er ist degeneriert. Er denkt
immer nur ans Geschäft. Und an Oberliga. Was kratzt das ihn, ob sie zurückkommt oder nicht?«
    Ich brach ab, und sie schwieg lange. Dann sagte sie:
    »Schauen Sie, Süßer, hören Sie mir zu. Ich hoffe sehr, dass Ihre Frau zurückkommt. Wirklich. Aber wenn nicht, dann müssen Sie anfangen, sich eine neue Perspektive zu suchen. Sie ist bestimmt ein toller Mensch, aber das Leben hat so viel mehr zu bieten als nur die Liebe zu jemandem. Sie müssen rausgehen, Steve. Jemand wie Sie gehört nicht ins Publikum. Schauen Sie mich an. Werde ich, wenn dieser Verband runterkommt, wirklich aussehen wir vor zwanzig Jahren? Ich weiß es nicht. Und es ist ewig lang her, dass ich mal nicht mit jemandem verheiratet war. Aber ich geh trotzdem wieder raus und versuch’s.« Sie kam zu mir und boxte mich leicht gegen die Schulter. »Hey. Sie sind einfach müde. Schlafen Sie sich erst mal aus, dann geht’s Ihnen gleich besser. Glauben Sie mir. Boris ist der Beste. Er wird es richten, für uns beide. Sie werden sehen.«
    Ich stellte mein Glas ab und stand auf. »Sie haben sicher recht. Wie Sie sagen: Boris ist der Beste. Und wir waren wirklich ein tolles Team da unten!«
    »Wir waren ein tolles Team da unten.«
    Ich beugte mich zu ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern, dann küsste ich sie rechts und links auf ihre bandagierten Wangen. »Schlafen Sie sich auch gut aus«, sagte ich. »Ich komm bald wieder rüber, und wir spielen Schach.«

    Aber nach diesem Morgen sahen wir uns nicht mehr oft. Als ich später darüber nachdachte, musste ich mir eingestehen, dass ich im Lauf dieser Nacht wohl das eine oder andere gesagt hatte, wofür ich mich vielleicht hätte entschuldigen, das
ich zumindest hätte erklären sollen. Aber nachdem wir es glücklich wieder bis in ihr Zimmer geschafft und uns gemeinsam auf dem Sofa vor Lachen gekringelt hatten, schien es mir nicht notwendig, alles noch mal zur Sprache zu bringen, ja eigentlich wäre es mir sogar falsch vorgekommen. Als wir uns an dem Morgen verabschiedeten, dachte ich, wir zwei wären über dieses Stadium weit hinaus. Dabei hatte ich doch erlebt, wie rasch Lindys Stimmung umschlagen kann. Vielleicht dachte sie später noch mal darüber nach und wurde wieder sauer auf mich. Wer weiß? Jedenfalls erwartete ich im Lauf des Tages einen Anruf von ihr, aber der kam nicht, und er kam auch nicht am Tag danach. Stattdessen hörte ich Tony Gardners Aufnahmen durch die Wand, mit voller Lautstärke, eine nach der anderen.
    Als ich, vielleicht vier Tage später, endlich doch hinüberging, war sie freundlich, aber distanziert. Wie beim ersten Mal erzählte sie viel von ihren berühmten Freunden – allerdings nichts darüber, dass sie einen von ihnen für meine Karriere einspannen würde. Nicht, dass mir das was ausmachte. Wir versuchten es noch mal mit Schach, aber ihr Telefon läutete ständig, und sie ging zum Reden ins Schlafzimmer.
    Und vor zwei Tagen schließlich klopfte sie abends an meine Tür und sagte, sie werde das Hotel jetzt verlassen. Boris sei zufrieden mit ihr und bereit, den Verband bei ihr zu Hause abzunehmen. Wir verabschiedeten uns freundschaftlich voneinander, aber es war, als hätte unser eigentlicher Abschied schon früher stattgefunden, nämlich an dem Morgen nach unserem Ausflug, als ich mich zu ihr gebeugt und sie auf beide Wangen geküsst hatte.
    So, das ist die Geschichte meiner Zeit als Lindy Gardners Zimmernachbar. Ich wünsche ihr alles Gute. Was mich betrifft,
so muss ich noch sechs Tage warten, bis ich ausgepackt werde, und noch viel länger, bis ich wieder Saxofon spielen darf. Aber ich bin inzwischen an dieses Leben gewöhnt, und die Zeit vergeht mir angenehm. Gestern bekam ich einen Anruf von Helen, die wissen wollte, wie es mir geht, und mächtig beeindruckt war, als ich sagte, ich hätte Lindy Gardner kennengelernt.
    »Ist sie nicht wieder verheiratet?«, fragte sie. Und als ich sie in dem Punkt aufklärte, sagte sie: »Ah, richtig. Offenbar hab ich sie mit dieser anderen verwechselt. Du weißt schon, wie heißt sie noch?«
    Wir redeten eine Menge belangloses Zeug – was sie im Fernsehen gesehen hatte, dass eine Freundin mit ihrem Baby zu Besuch gewesen war. Dann sagte sie, dass Prendergast sich nach mir erkundige, und dabei wurde ihre

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