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Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sveva Casati Modignani
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ging nicht zu ihr, um nach ihr zu sehen. Als sie eines Tages allein mit ihrem Vater zu Abend aß, gab sie sich einen Ruck und fragte: »Wie geht es deiner Frau?«
    Â»Meine Frau ist deine Mutter, und es geht ihr sehr schlecht«, erwiderte Crippa.
    Â»Das tut mir leid«, flüsterte sie.
    Â»Warum gehst du nicht zu ihr?«
    Â»Ihr Zimmer ist das reinste Mausoleum für euren heiß geliebten verlorenen Sohn. Dort stehen alle seine Fotos, um sie zu trösten. Ich bin da überflüssig.«
    Signora Crippa starb. Nach der Beerdigung zog sich Bianca ein lilarotes Kleid an, setzte sich ans Steuer ihres Wagens und fuhr nach Mailand, wo sie mehrere Tage blieb. Ihr Vater wusste weder, was sie dort tat, noch, wen sie während ihrer Abwesenheit besuchte, und wagte es auch nicht, sie danach zu fragen. Er wollte es lieber gar nicht wissen und die Schmerzen und Enttäuschungen vergessen, indem er sich ganz auf das Wohlergehen seiner Firma konzentrierte.
    Es war die Zeit des Faschismus, und Commendator Crippa war es gelungen, ein paar leicht bestechliche Personen zu finden, die ihm gegen großzügige Bezahlung wichtige Aufträge zuschoben. Er zahlte und verachtete sie. Sie kassierten und übersahen, dass der Firmenbesitzer kein Parteibuch besaß und es bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen er überhaupt Besuch empfing, vermied, die örtlichen Autoritäten einzuladen.
    Bianca mied jeden gesellschaftlichen Anlass. Wenn sie zu Hause war, zog sie sich auf ihr Zimmer zurück.
    Seit dem Tod ihrer Mutter begleitete sie den Vater regelmäßig zur Arbeit. Sie ging zu seinem Büro hinauf, setzte sich, mit Papier und Bleistift bewaffnet, in eine Ecke und zeichnete stundenlang, wobei sie scheinbar nicht mitbekam, was um sie herum vorging. Doch ihr war nicht entgangen, dass zu den eifrigsten Mitarbeitern, mit denen sich Commendator Crippa besprach, auch jener Amilcare Cantoni gehörte, der ihr nach ihrem unglücklichen Sturz mit dem Fahrrad zu Hilfe geeilt war.
    Ebenso wenig entging ihr, welchen Respekt ihr Vater ihm entgegenbrachte und wie aufmerksam er seinen Vorschlägen lauschte. Der junge Mann hatte ein gutes Benehmen, war schlicht gekleidet, vermied es, Dialekt zu sprechen, und formulierte Sätze wie ein Studierter. Bianca wusste, dass er das Abitur auf dem naturwissenschaftlichen Gymnasium mit Bravour bestanden hatte, nachdem ihm der Dorfpfarrer bei den Vorbereitungen geholfen hatte. Das war längst nicht mehr Don Giuseppe, der sich inzwischen in ein Kloster zurückgezogen hatte, sondern ein junger gebildeter Priester bürgerlicher Herkunft. Inzwischen studierte Cantoni gerade im zweiten Jahr Hydraulik. Dass er sich regelmäßig von der Arbeit entfernen durfte, um Vorlesungen zu hören, verdankte er der Groß zügigkeit des Commendatore.
    Sobald er das Büro des Vaters betrat, hörte Bianca auf zu zeichnen und hörte ihm zu.
    Im Gegensatz zu anderen Angestellten war Amilcare nicht unterwürfig, weder dem Padrone noch ihr gegenüber. Er wünschte ihr lächelnd Guten Tag und ignorierte sie anschließend.
    Einmal hörte sie, wie er sagte: »Haben Sie jemals daran gedacht, Zeitungsanzeigen zu schalten, Commendatore?«
    Â»Das macht man für Hustensaft, Hautcremes und Schuhwichse, aber doch nicht für Armaturen … Was sollen meine Kunden mit so einer Reklame?«, wandte Crippa ein.
    Â»Bei der neuen Kollektion für Privathäuser und Hotels könnte man nicht nur ein funktionales, sondern auch ein elegantes Modell vorstellen. Man könnte damit beginnen, unsere Ausstellung auf der Mailänder Mustermesse anzukündigen«, erklärte Cantoni unbeeindruckt.
    Â»Soll ich einen Kaffee machen?«, mischte Bianca sich plötzlich lächelnd ein.
    In einem kleinen Nebenzimmer standen ein Eisschrank mit kalten Getränken und eine Kochplatte für den Kaffee. Ohne die Antwort abzuwarten, ließ die junge Frau ihre Zeichnungen auf einem Tischchen liegen und eilte nach nebenan.
    Dabei fiel eine der Zeichnungen zu Boden, und Amilcare hob sie auf, sah sie an und reichte sie dann dem Padrone: »Sehen Sie selbst, Commendatore. Signorina Bianca ist mir zuvorgekommen.«
    Erstaunt betrachtete der Mann die Skizze. Bianca hatte eine attraktive weibliche Gestalt vor einer Küchenspüle gezeichnet. Eine Hand lag auf einer blütenkelchförmigen Armatur, aus der Wasser floss, darunter stand in geschwungenen Buchstaben: CRIPPA.

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