Bei Anbruch des Tages
untersucht sie gerade.«
»Und dein GroÃvater?«, fragte Celina.
»Er ist auch dabei«, erwiderte Guido und ging vor Mutter und Ehefrau in das Wohnzimmer neben dem Schlafzimmer.
Léonie setzte sich neben ihren Mann, und gemeinsam mit Celina warteten sie schweigend. Léonie musste an die Geschichte denken, die ihre Schwiegermutter erzählt hatte, und an die Fotos von Bianca Crippa, die sie allein oder mit ihrem Mann zeigten und die sie in einem Familienalbum der Cantonis gesehen hatte.
Darauf war eine schöne, elegante Frau zu sehen, deren Gesicht von üppigem dunklen Haar umrahmt wurde.
Ihr undurchdringlicher Blick hatte Léonie bestürzt, während Amilcare auf allen Aufnahmen lachte. Der Ingenieur und die Erbin waren ein beeindruckendes Paar. Aber es gab kein einziges Foto von Bianca mit den beiden Kindern: mit Renzo, dem Ãlteren, Celinas Mann. Oder mit Gioacchino, der Erzbischof in der Provinz Lecco war. Stattdessen waren die beiden Kinder oft mit dem Vater zu sehen, auf Schnappschüssen, die in den Bergen oder am Meer aufgenommen worden waren. Ganz so, als hätte Amilcare die Kinder allein aufgezogen. Léonie bedauerte, dass Celinas Erzählungen mit der Hochzeit von Bianca und Amilcare geendet hatten.
Welche Geheimnisse mochte das Leben der g rand-maman wohl noch bergen?
In Gedanken versunken, spürte sie, wie Guido ihre Hand liebkoste.
»Ich fürchte, die Nonna liegt im Sterben«, flüsterte er.
»Das tut mir sehr leid«, erwiderte Léonie, weil sie wusste, wie sehr Guido an ihr hing. Dann sagte sie: »Deine Mutter hat mir viel über sie erzählt. Unter anderem, wie dein GroÃvater und sie sich kennengelernt haben.«
Der Arzt kam ins Wohnzimmer, gefolgt von einem Zimmermädchen, das sagte: »Gleich bringe ich Ihnen den Kaffee.«
»Und?«, fragte Guido.
»Sie stirbt gelassener, als sie gelebt hat.«
»Darf ich zu ihr?«, fragte er.
Der Mann nickte.
»Ich begleite dich!«, schlug Léonie vor.
Die Tür zu Biancas Zimmer stand offen, und die beiden sahen, dass der alte Amilcare an ihrem Bett saà und sich leise mit seiner Frau unterhielt, während er liebevoll über ihr weiÃes Haar strich.
Léonie und Guido wechselten einen einverständlichen Blick. Sie würden diesen letzten Moment der Nähe einer langen, turbulenten Liebesbeziehung nicht stören.
Im Wohnzimmer hörten sie Celina leise weinen.
»Hast du papà Bescheid gesagt?«, fragte sie Guido, der mit Léonie zurückkam.
»Soll ich?«, fragte er beinahe zögernd.
»Es ist seine Mutter, und er muss verständigt werden!«, sagte Celina vorwurfsvoll.
Léonie verstand nicht und warf dem Arzt der Familie einen fragenden Blick zu. Der bedeutete mit einer Geste, das Gespräch lieber zu ignorieren. Dann sagte er: »Ich gehe wieder zu ihr«, und verlieà das Zimmer.
»Ich werde auch Onkel Gioacchino Bescheid sagen«, beschloss Guido.
2
B ianca Cantoni, geborene Crippa, starb noch in derselbenNacht, die Beerdigung fand an Heiligabend statt. Sie wurde auf dem Friedhof von Villanova in der Familiengruft bestattet. Wie so oft bot die Beerdigung Gelegenheit, Freunde und Verwandte wiederzusehen, und beim Abendessen mit vielen Gästen stellten der Koch, der Patissier und das Küchenpersonal ihr Können unter Beweis.
Der Patriarch, der Ingenieur Amilcare Cantoni, saà am Kopfende des Tisches und sagte nur: »Wenn es ein Jenseits gibt, liegt meine Bianca jetzt in den Armen des Herrn. Sie war meine einzige groÃe Liebe. Meine Freude und mein Schmerz, da ich es nicht geschafft habe, sie von den Dämonen zu befreien, die sie so oft verfolgt haben. Möge sie in Frieden ruhen! Ich selbst werde versuchen, die Tage oder Jahre, die mir noch bleiben, so gut wie möglich zu leben. Wir Cantonis wollen niemals vergessen, dass das ihr Haus ist und dass wir ihr alles verdanken, was wir haben.«
Zu den Gästen gehörte auch Generoso Castelli, der in diesem Moment gern gestanden hätte, dass er nie geheiratet hatte, weil er immer nur Bianca geliebt hatte.
Amilcare hatte das immer gewusst. Nicht umsonst war der Freund stets bereit gewesen, Bianca zu einem Konzert, einer Ausstellung oder einer Theaterpremiere zu begleiten, wenn er selbst verhindert war. Und er hatte Generosos Freude gesehen, wenn sie ihm ein »Danke« zuflüsterte oder ein Lächeln schenkte.
An diesem Tag hatte Amilcare ihn
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