Bei Anbruch des Tages
französischen Süden. Er wirkte auf den ersten Blick rau und streng, dabei war er zärtlich und zuvorkommend.
Er hatte sich mit ihr zur nächsten Wintersonnenwende in Varenna verabredet. Aber in einem Jahr konnte viel passieren.
Sie selbst wusste nicht genau, ob sie ihn wiedersehen wollte. Sie hatte jetzt einen Sohn, um den sie sich kümmern musste. In diesem Moment betrat Guido das Zimmer, ging auf seine Frau zu und küsste sie auf die Stirn. Er blieb und sah ihr dabei zu, wie sie ihr gemeinsames Kind stillte. Er blickte auf ihre straffe, alabasterfarbene Brust, die aus der weiÃen Spitzenbluse hervorschaute, während ihr dunkler Pagenkopf die perfekte Krümmung ihres Nackens betonte.
»Wie schön du bist!«, flüsterte er.
Léonie sah ihren Mann an und lächelte.
Die winzige Hand des Kindes, die die Mutterbrust umklammerte, lockerte den Griff und erschlaffte.
»Jetzt ist er eingeschlafen«, sagte sie.
Guido lächelte und sah sie dabei gleichzeitig melancholisch an. Wieder einmal fragte sich Léonie, welches Geheimnis er vor ihr verbarg. Sie wusste, dass er nicht rettungslos in sie verliebt war, aber seine liebevolle Art, seine GroÃzügigkeit und aufrichtige Zuneigung hatten sie dazu gebracht, ihn zu heiraten. Von auÃen betrachtet, waren sie ein beneidenswertes Paar, und vielleicht waren sie das ja tatsächlich, auch wenn sie keine echte Leidenschaft verband.
Léonie wünschte sich, dass ihre Ehe ewig halten würde, ohne dass es zu schmerzhaften Ereignissen oder Enttäuschungen kam. Sie wünschte sich, dass die heitere Gelassenheit andauerte, die ihr jetziges Leben kennzeichnete. Sie erhob sich vom Sessel, nahm das schlafende Kind hoch und legte es an ihre Schulter. Nachdem der Kleine ein deutlich hörbares Bäuerchen gemacht hatte, lachten sie, anschlieÃend legte Léonie Giuseppe zurück in seine Wiege.
Guido trat zu ihr und überreichte ihr ein kleines samtbezogenes Kästchen. »Das ist für dich, weil du mir einen Sohn geschenkt hast«, sagte er.
Léonie öffnete das Kästchen, und ihr Atem stockte: Es enthielt einen Goldring in Form einer Blüte, in deren Mitte ein dicker gelber Diamant prangte.
Sie sah Guido an und sagte: »Den Sohn habe ich uns beiden geschenkt, nicht nur dir.«
»Natürlich«, erwiderte er. »Aber du hast ihn geboren!«
»Verstehe«, flüsterte sie. Trotzdem schloss sie das Kästchen und gab es ihm mit den Worten zurück: »Ich möchte keine Belohnung dafür haben, dass ich ein Kind zur Welt gebracht habe. Unser Sohn ist die Belohnung.«
»Ich wollte dich nicht beleidigen«, erwiderte Guido, ohne den Ring zurückzunehmen.
»Du hast mich nicht beleidigt, mein Schatz. Ich wollte dir nur meine Position klarmachen.«
»Das hast du auch. Aber jetzt nimm bitte diesen Ring von mir an, den ich dir nur schenke, um dir eine Freude zu machen.«
Der liebevolle Blick ihres Mannes lieà sie weich werden, und gerührt sagte sie: »Deine GroÃzügigkeit und die deiner Verwandten machen mich jedes Mal verlegen. Ich habe groÃes Glück gehabt, in diese Familie aufgenommen zu werden. Ich habe von euch allen deutlich mehr bekommen, als ich es je zu hoffen gewagt hätte. Daher denke ich, es ist eher an mir, dir und deinen Eltern Geschenke zu machen und mich erkenntlich zu zeigen.«
Sie legte das Kästchen auf einen kleinen Tisch, strich ihrem Mann zärtlich über die Wange und sagte leise: »Ich bin mir sicher, du verstehst das.«
»Du überraschst mich immer wieder aufs Neue«, flüsterte er und umarmte sie heftig.
4
I m Dezember war Giuseppe ein halbes Jahr alt und wurde abgestillt. Léonie stillte jetzt nur noch zweimal täglich, einmal frühmorgens und einmal abends.
Tagsüber bekam er in der Obhut der Hausangestellten püriertes Fleisch, Obst und Gemüse, während sie allmählich die Arbeit wieder aufnahm.
Der Tag der Wintersonnenwende rückte näher, und Léonie wurde unruhig. Schon der kleinste Anlass lieà sie aufschrecken. Die Erinnerung an Roger Bastiani und sein Versprechen, am zweiundzwanzigsten Dezember auf sie zu warten, lieÃen ihr keine Ruhe. An einem sonnigen Nachmittag kehrte Guido aus Rom zurück und suchte nach ihr.
»Die Signora ist mit dem Kind im Park«, sagte Nesto.
Léonie saÃ, in einen dicken Pelz gehüllt, auf der Bank und schaukelte den Kinderwagen, in dem
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