Bei Anbruch des Tages
zu seiner Rechten Platz nehmen lassen und befahl: »Reià dich zusammen!«
Mit geröteten Augen entgegnete Generoso: »Wir stehen beide bereits mit einem Fuà im Grab. Und trotzdem hörst du nicht auf, mich herumzukommandieren. Auch ich werde nie aufhören, dich zu hassen.«
»Das ist ja das Schöne an einer Freundschaft«, erwiderte Amilcare lächelnd.
Léonie, die am anderen Ende des Tisches saÃ, fragte Guido, der neben ihr Platz genommen hatte: »Warum streitet dein GroÃvater mit Generoso?«
»Wenn meine Mutter dir von GroÃmutter erzählt hat, hat sie doch sicherlich auch ihn erwähnt.«
»Er war der mit dem silberblauen Fiat Super?«, flüsterte sie.
»Ganz genau«, bestätigte ihr Ehemann.
»Und GroÃvater hatte nichts dagegen, dass er und seine Frau sich immer wieder getroffen haben?«
»Ich glaube, das kam ihm sogar gelegen«, erwiderte Guido.
»Aber war er nicht ein Schürzenjäger?«, fragte Léonie nach wie vor im Flüsterton.
»Ja. Die Frauen waren seine Leidenschaft, aber Bianca war seine groÃe Liebe«, erklärte Guido.
Nach dem Essen verlieÃen die fast ausnahmslos nicht mehr jun gen Gäste die Villa. Auch Onkel Gioacchino verabschiedete sich, der in sein Bistum zurückkehren musste, um die Mitternachtsmette zu lesen. Weihnachten und die darauffolgenden Feiertage vergingen wie im Flug. Léonie und ihr Mann verbrachten ein paar Tage mit Freunden im Schnee in Tirol. Léonie unternahm lange Spaziergänge, während Guido die verschneiten Pisten hinuntersauste. Ansonsten sonnte sie sich auf dem Hotelbalkon und unterhielt sich mit anderen Frauen, die wie sie auf ihre sportlichen Männer warteten.
An den Abenden spielten sie Karten mit ihren Freunden, bis sie müde wurden und auf ihr Zimmer gingen. Als sie eines Abends im groÃen Ehebett unter der weichen Daunendecke lagen, fragte sie: »Warum habe ich nie Fotos von deiner GroÃmutter mit ihren Kindern gesehen?«
»Willst du das wirklich wissen?«, erwiderte er gähnend.
»Ich möchte die Familie kennen, zu der unser Kind gehören wird.«
»Reicht dir nicht, was deine Freundinnen in Villanova erzählen?«, neckte er sie.
»Sie erzählen mir nichts, und ich stelle keine Fragen. Was Fremde über Familienangelegenheiten sagen, entspricht meist nicht der Wahrheit.«
»Was ich über meine GroÃmutter erfahren habe, habe ich von den Dienstboten aufgeschnappt. Ich glaube, nicht einmal mein Vater weiÃ, was genau vorgefallen ist, da er damals erst zwei Jahre alt war. GroÃvater weià natürlich alles, spricht aber nicht darüber.«
»Wieso, was ist denn geschehen?«, fragte Léonie.
»GroÃmutter soll nach der Geburt ihres zweiten Sohnes Gioacchino verrückt geworden sein und versucht haben, ihn umzubringen.«
Nach dieser erschütternden Mitteilung schwiegen sie eine Weile.
Dann erzählte Guido weiter: »Vermutlich hat sie an einer postnatalen Depression gelitten. Sie hatte Probleme beim Stillen. Sie hat geschrien vor Schmerz, während Blut und Milch aus ihrem Busen strömten. Kurz darauf hat sie das Neugeborene zurück in seine Wiege gelegt und ihm ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Eine Hausangestellte wurde durch den Schrei meiner GroÃmutter alarmiert und ist noch rechtzeitig ins Zimmer gekommen, um den Kleinen zu retten.«
»Meine Güte!«, flüsterte Léonie. »Und was ist dann passiert?«
»Sie kam in eine berühmte psychiatrische Klinik in Genf. Dort ist sie viele Jahre geblieben. GroÃvater hat sie jeden Monat besucht, und anscheinend hat sie ihn nie nach den Kindern gefragt. Sie hat sie verdrängt. Als GroÃvater sie schlieÃlich nach Hause geholt hat, gingen die Kinder schon aufs Internat. Sie sind nur an Feiertagen nach Villanova gekommen und wurden nicht in die Nähe ihrer Mutter gelassen. Bianca hat sich furchtbar aufgeregt, wenn sie ihr zu nahe kamen, als hätte sie Angst vor ihnen. Papà und Onkel Gioacchino sind ohne Mutter aufgewachsen, mit allen nur erdenklichen Folgen. Irgendwann schien GroÃmutter ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden zu haben, doch dann hat GroÃvater entdeckt, dass sie die Villa heimlich zum Verkauf angeboten hatte.«
»Wieso denn das?«, fragte Léonie.
»Sie wollte nicht mehr in Villanova wohnen, meinte, der Ort bringe ihr Unglück. Mein Vater, der damals
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