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Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sveva Casati Modignani
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meiner Frau‹ vorstellte. Nonna Bianca wurde von zwei intelligenten, anständigen Männern geliebt. Ist das nicht einzigartig?«, fragte ihr Mann.
    Es war Abend, und sie saßen allein im roten Salon. Guido nippte an einem Cognac und wärmte das dünne Kristallglas mit der Hand. Léonie hatte eine Tasse mit heißem Pfefferminztee vor sich und wartete darauf, dass das Getränk sich abkühlte.
    Â»Vielleicht ist das gar nicht so einzigartig«, flüsterte sie betroffen und dachte an Roger. »Wieso bist du dir so sicher, dass Nonna Bianca ihren Mann nie wirklich mit Castelli betrogen hat?«
    Â»Sie hat ihren Mann geliebt, außerdem war es perfekt, wie es war. Genau daraus möchte ich einen Spielfilmstoff entwickeln: Bianca, vom Wahnsinn überschattet, intellektuell von Generoso angezogen, aber verliebt in Großvater, den sie zärtlich ›meinen Cantoni‹ genannt hat. In meiner ziemlich einsamen Kindheit gab es Sommernachmittage, an denen sich alle auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten, um sich auszuruhen. Sobald Stille in die Villa einkehrte, wurde ich zum Entdecker eines Reiches, das mir unendlich groß vorkam. Denn dieses Haus ist riesig und voller Schätze und Geheimnisse. Damals war Großvater noch das Familienoberhaupt und der Fabrikbesitzer. Trotzdem hatte er sich bereits mit Großmutter in den Westflügel zurückgezogen, in den Teil, in dem ich mich am seltensten aufhielt. Meine Mutter dachte, ich wäre im Bett und schliefe, stattdessen bin ich heimlich durch die Räume geschlichen, die ich kaum kannte. Mich haben die endlosen Flure fasziniert, die riesigen Gemälde an den Wänden, das Knacken des Parketts, die Schubladen in den großen Schränken, voll mit Unterlagen, alten Fotos, Elfenbeinkästchen, lederbezogenen Schachteln, die eine verwelkte Blume, ein paar Würfel oder einen Rosenkranz enthielten. Ich hatte eine Katze, die mir überallhin gefolgt ist. In meiner Fantasie war sie mein getreuer Knappe, stets bereit, mich vor jeder Gefahr zu warnen, die in Gestalt eines Hausbewohners drohte, der mich beim Herumschnüffeln ertappte. Wenn ich am Zimmer der Großeltern vorbeischlich, lauschte ich an der Tür.
    Ich hörte, wie sie miteinander redeten und lachten. Die beiden waren sehr glücklich. Manchmal hörte ich ein seltsames Stöhnen. Dann bekam ich Angst und lief davon. Erst viel später habe ich begriffen, dass sie sich liebten. Und das, obwohl Großmutter in meinen Augen schon uralt war! Dabei war sie erst fünfzig und führte offensichtlich mit Großvater ein erfülltes Liebesleben. Findest du diese Geschichte nicht auch wunderbar?«
    Â»Wenn du damit meinst, dass eine Frau den Geliebten, den sie nicht haben kann, über den Ehemann liebt, scheint mir das gut zu Biancas Wahnsinn zu passen«, meinte sie leicht verlegen, da sie nicht umhinkam, ihr Verhalten mit dem von Bianca Crippa zu vergleichen. Auf einmal kam ihr der Verdacht, Guido könne etwas von ihrem Treffen mit Roger wissen und versuche nun auf Umwegen, sie zum Reden zu bringen.
    Â»Es ist eine schöne Geschichte, glaub mir!«, beharrte ihr Mann.
    Léonie sah ihm ins Gesicht. In seinem offenen Blick lag nicht der Schatten eines Verdachts, und das beruhigte sie.
    Â»Vielleicht hast du recht. Die Geschichte ist schön, aber auch kompliziert, findest du nicht?«
    Â»Genau deshalb rede ich mit dir darüber. Du bist mein Resonanzboden, der mir dabei hilft, den Plot auszutüfteln.«
    Â»Bisher hast du mir noch nie von deinen Projekten erzählt«, bemerkte Léonie.
    Â»Es gibt immer ein erstes Mal«, verkündete Guido und genoss den letzten Schluck Cognac. Dann stellte er sein Glas neben die inzwischen leere Teetasse seiner Frau und sagte: »Es ist bereits nach Mitternacht. Wollen wir zu Bett gehen?«
    An diesem Abend liebten sie sich, und kurz vor dem Einschlafen dachte Léonie an Roger und sagte: »Wäre deine Großmutter Bianca nicht so seltsam gewesen, hätte sie sich Castelli hingegeben. Und wahrscheinlich wäre es dann mit ihrer Liebe vorbei gewesen.«
    Â»Und wenn sie stattdessen gemerkt hätte, dass sie ihn ihrem Mann vorzieht?«, fragte Guido.
    Â»Man muss im Leben auch mal ein Risiko eingehen. Sonst wird man verrückt«, behauptete sie und beschloss noch im selben Moment, auch das nächste Treffen mit Roger wahrzunehmen.
    Dann schlief sie ein.
    Nach den Weihnachtsferien

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