Bei Anbruch des Tages
an dem mein Film richtig in Szene gesetzt werden kann«, hatte er ihr gesagt und versprochen: »An Heiligabend bin ich wieder zurück.«
In Varenna traf sie sich mit Roger. Und wie jedes Mal hatten sie sich viel zu erzählen. Sie sprachen über ihre Schwächen, ihre Glücksmomente, ihre Ãngste, ihre Probleme und das, worauf sie stolz waren. Sie verbrachten ein paar Stunden im Bett, liebten sich zärtlich und vergaÃen alles andere um sich herum. Sie lachten über Kleinigkeiten und waren gerührt, dass ihre Gefühle füreinander in all den Jahren nicht nachgelassen hatten.
Am späten Nachmittag machten sie einen Spaziergang durch die Altstadt.
»Glaubst du, wir werden nächstes Jahr auch wieder hier sein?«, fragte Léonie.
»Wieso fragst du?«
»Weil alles Schöne irgendwann einmal vorbei ist.«
»Unsere Liebe, mon amour, ist nicht schön. Sie ist der absolute Superlativ und kann gar nicht irgendwann vorbei sein.«
Sie blieben stehen und sahen in die Schaufenster der Läden, die Souvenirs und Weihnachtsschmuck verkauften. Und genau dort, vor einem dieser Geschäfte, sah Guido seine Frau Arm in Arm mit einem gut aussehenden, eleganten Mann. Die beiden sahen sich tief in die Augen, unterhielten sich und lachten.
8
G uido war zufällig nach Varenna gekommen, nachdem er gemeinsam mit dem Regisseur und dem Standfotografen beschlossen hatte, am Flusslauf des Lecco nach passenden Panoramen zu suchen. Sie hatten den Vormittag in Bellano verbracht, wo sie zu Mittag gegessen hatten, und waren am Nachmittag nach Varenna gefahren.
Sie waren zwischen mittelalterlichen kleinen Häusern über Maultierpfade gegangen und unter Arkaden am See entlang, wobei sie Osterien, Fässer und alte Küchenherde fotografiert hatten sowie die in den Fels gehauenen alten Läden.
In Varenna hatten sie sich für den kleinen Souvenirladen interessiert, der hölzerne Nachbildungen der berühmten Barke verkaufte, mit der die Lucia aus Alessandro Manzonis Die Brautleute in Pescarenico vom Ufer abgelegt hatte. Sie waren in das Geschäft hineingegangen. Während der Fotograf Bilder von der alten Gewölbedecke machte, hatte Guido in den Regalen gestöbert. Vom Fenster aus hatte er dann Léonie Arm in Arm mit dem anderen Mann gesehen. Dabei war ihm vor Schreck beinah das Herz stehen geblieben. Er war wie zu Stein erstarrt. Kurz darauf waren die beiden verschwunden. Er war vor die Tür des Ladens getreten und hatte gesehen, wie sie ein kleines Lokal betraten. Kurz entschlossen war er ihnen gefolgt, und durch die mit weiÃen Spitzenvorhängen geschmückten Fenster hatte er beobachtet, wie sie sich an einen Tisch neben einem groÃen Kachelofen setzten.
Er musste sich an der AuÃenmauer des Lokals abstützen, um wieder zu Atem zu kommen. Dabei sah er, dass der Fotograf aus dem Souvenirladen kam und sich vergeblich nach ihm umschaute. Kurz darauf kam der Regisseur dazu. Die beiden redeten miteinander und bogen dann in eine Gasse ein, die zum Kirchplatz führte, in Richtung des Hotel Royal, wo sie Zimmer gebucht hatten.
Guido stand nicht der Sinn danach, sich gleich wieder zu ihnen zu gesellen, aber sollte er wirklich hier drauÃen, in der eiskalten Abendluft, darauf warten, dass seine Frau und ihr vermutlicher Liebhaber wieder herauskamen? Am Ende siegte seine Neugier, und so blieb er am Fenster stehen, bis Léonie und ihr geheimnisvoller Begleiter das Restaurant verlieÃen. AnschlieÃend verfolgte er sie bis zum Hôtel du Lac . Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr nach Hause. Später würde er die beiden Kollegen im Hotel anrufen und ihnen sagen, dass er müde geworden und nach Villanova zurückgekehrt sei.
Auf der Fahrt wurde ihm klar, dass Léonie seit Jahren, ja, im Grunde seit ihrem ersten Weihnachtsfest als Ehepaar, stets am zweiundzwanzigsten Dezember irgendwohin aufgebrochen war. Wer war dieser Mann? War er wirklich ihr Liebhaber? Wie hatte sie ihn kennengelernt? Wann und wo trafen sie sich?
War es denn möglich, dass eine so hingebungsvolle Mutter und zärtliche Ehefrau, die dazu unermüdlich ihrem Beruf nachging, ein Doppelleben führte? Warum hatte er nicht längst Verdacht geschöpft? Während er die letzten Jahre Revue passieren lieÃ, wurde ihm bewusst, dass er den Unternehmungen seiner Frau nie groÃe Aufmerksamkeit geschenkt hatte, auch nicht, wenn sie einen ganzen Tag oder länger
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