Bei Einbruch der Nacht
eventuell ein sehr großer Hund, nämlich eine deutsche Dogge. Gab es eine deutsche Dogge, die ins Gebirge entlaufen war? Nein, es gab keine. Also war es ein Wolf, ein großer Wolf.
Dieses Mal hatte man einen Abdruck am Boden gefunden, den einer linken Vorderpfote, die sich rechts von der Leiche in den Schafmist gedrückt hatte. Eine fast zehn Zentimeter breite Spur, die Pfote eines Wolfs. Mit dem linken Fuß in Scheiße zu treten bringt angeblich Glück. Adamsberg fragte sich, ob das auch für Wölfe galt.
Man mußte schon ziemlich leichtsinnig sein, um so ein Tier in Bedrängnis zu bringen. Das kam davon, wenn man so drauflosstürzte. Immer alles zu schnell machen wollen, immer die Dinge überstürzen. Das führte zu nichts Gutem. Sünde der Ungeduld. Oder es war kein Wolf wie die anderen. Abgesehen von seiner gewaltigen Größe, war er auch noch geisteskrank. Adamsberg öffnete sein Zeichenheft, zog einen am Ende angenagten Stift aus der Tasche, den er mit vagem Interesse betrachtete. Der Stift mußte Danglard gehören. Er war ein Typ, der alle Stifte dieser Erde annagte. Adamsberg drehte ihn zwischen seinen Fingern und untersuchte gedankenverloren die tiefen Kerben, die die Zähne des Mannes in das Holz gehauen hatten.
12
Im Morgengrauen hörte Camille, wie das Motorrad angelassen wurde. Sie hatte nicht einmal bemerkt, daß Lawrence aufgestanden war. Der Kanadier war ein leiser Mensch, und er achtete auf Camilles Schlaf. Ihm war Schlaf mehr oder weniger egal, für Camille dagegen gehörte er zu den zentralen Werten des menschlichen Seins. Sie hörte, wie das Motorengeräusch sich entfernte, warf einen Blick auf den Wecker und suchte nach dem Grund für all die Eile.
Ach ja, Massart. Lawrence versuchte ihn zu erwischen, bevor er zum Schlachthof in Digne aufbrach. Sie drehte sich um und schlief augenblicklich wieder ein.
Um neun kam Lawrence zurück und rüttelte sie an der Schulter.
»Massart hat nicht zu Hause geschlafen. Sein Wagen steht immer noch da. Ist nicht zur Arbeit.«
Camille setzte sich auf und fuhr sich durchs Haar.
»Wir sagen den Bullen Bescheid«, fuhr er fort.
»Was wollen wir ihnen sagen?«
»Daß Massart verschwunden ist. Daß sie in den Bergen nach ihnen suchen sollen.«
»Du erzählst nichts von Suzanne?«
Lawrence schüttelte den Kopf.
»Erst durchsuchen wir seine Hütte«, sagte er.
»Seine Hütte durchsuchen? Bist du verrückt?«
»Wir müssen ihn wiederfinden.«
»Wozu soll es gut sein, seine Hütte zu durchsuchen?«
»Sagt uns vielleicht, wo er hin ist.«
»Was glaubst du da zu finden? Sein Werwolf-Fell, zusammengefaltet in einem Schrank?«
Lawrence zuckte mit den Achseln.
»God, Camille. Hör auf zu reden. Komm.«
Eine Dreiviertelstunde später betraten sie das kleine, halb aus Steinen, halb aus Brettern errichtete Haus von Massart. Die Tür war nur ins Schloß gedrückt.
»Das ist mir lieber«, sagte Camille.
Die Hütte verfügte nur über zwei Zimmer, ein kleines, ziemlich dunkles und spärlich möbliertes Wohnzimmer, ein Schlafzimmer sowie einen kleinen Waschraum. Eine mächtige Gefriertruhe in der Ecke des Wohnzimmers war das einzig sichtbare Zeichen von Modernität.
»Schmuddelig«, murmelte Lawrence, während er den Raum inspizierte. »Die Franzosen sind schmuddelig. Wir müssen die Gefriertruhe öffnen.«
»Mach's selber«, sagte Camille knapp.
Lawrence räumte alles ab, was auf der Truhe lag - Helm, Taschenlampe, Zeitung, Straßenkarte, Zwiebeln -, legte die Sachen auf den Tisch und hob den Deckel.
»Und?« fragte Camille, die an der Wand gegenüber lehnte.
»Fleisch, Fleisch und nochmals Fleisch«, kommentierte Lawrence.
Mit einer Hand durchwühlte er den Inhalt bis zum Boden.
»Hasen, Wildkaninchen, Rind und eine viertel Gemse. Massart wildert. Für sich, für seinen Hund oder für beide.«
»Auch Schaf?«
»Nein.«
Lawrence ließ den Deckel zurückfallen. Beruhigt setzte sich Camille an den Tisch und faltete die Straßenkarte auseinander.
»Vielleicht notiert er sich seine Wege im Gebirge«, sagte sie.
Wortlos ging Lawrence ins Schlafzimmer, hob die Decke hoch, die Matratze, öffnete die Schubladen des Nachttischs, der Kommode und untersuchte den kleinen Holzschrank. Schmuddelig.
Er kam ins Wohnzimmer zurück und wischte sich die Hände an seiner Hose ab.
»Es ist keine Karte der Gegend«, sagte Camille. »Es ist eine Frankreichkarte.«
»Irgendwas markiert?«
»Weiß nicht. In dem Zimmer sieht man ja nichts.«
Lawrence zuckte mit den
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