Bei Einbruch der Nacht
was gefunden?«
»Vier weitere, ganz dünn markierte Kreuze. Alle zwischen der Nationalstraße 202 und dem Mercantour.«
Lawrence hob fragend das Kinn.
»Die Kreuze sind bei Andelle und Anélias östlich von Saint-Victor, bei Guillos, zehn Kilometer nördlich, und bei La Castille, fast an der Grenze des Naturparks.«
»Paßt nicht«, bemerkte Lawrence. »Da gab's nie einen Angriff auf eine Schäferei. Bist du dir mit den Orten sicher?«
»Ungefähr.«
»Paßt nicht. Muß was anderes bedeuten.«
Lawrence dachte nach.
»Vielleicht da, wo er seine Fallen aufstellt«, vermutete er.
»Warum sollte er sie auf der Karte markieren?«
»Schreibt seinen Fang auf. Vermerkt die guten Stellen.«
Camille nickte und faltete die Karte zusammen.
»Wir essen im Café auf dem Dorfplatz«, sagte sie. »Wir haben nichts mehr da.«
Lawrence verzog das Gesicht und sah im Kühlschrank nach.
»Siehst du«, bemerkte Camille.
Lawrence war ein Mann der Einsamkeit, er begab sich nicht gern an öffentliche Orte, schon gar nicht mochte er es, zu Mittag in ein Café zu gehen, das Klappern der Bestecke und die Kaugeräusche zu hören und vor aller Augen zu essen. Camille dagegen mochte den Lärm, und sooft sie konnte, schleppte sie Lawrence in das Café am Dorfplatz, in das sie fast jeden Tag ging, wenn der Kanadier im Mercantour verschwand.
Sie ging zu ihm und küßte ihn auf die Lippen.
»Komm«, sagte sie.
Lawrence drückte sie an sich. Camille würde davonlaufen, wenn er sie vom Rest der Welt isolierte. Aber es kostete ihn große Überwindung.
Als das Essen fast beendet war, betrat Larquet, der Bruder des Straßenwärters, das Café, außer Atem und hochrot im Gesicht. Die Unterhaltung erstarb. Larquet setzte nie einen Fuß in das Café, er nahm sein Eßgeschirr mit und aß auf der Straße.
»Was ist los mit dir, Alter?« fragte der Wirt. »Hast du die Jungfrau gesehen?«
»Nicht die Jungfrau, du Idiot. Die Frau vom Tierarzt hab ich gesehen, als sie von Saint-André hochkam.«
»Es war garantiert ganz anders«, bemerkte der Wirt.
Die Frau des Tierarztes war Krankenschwester und piekste die Hintern der gesamten Umgebung von Saint-Victor. Sie war sehr beliebt, weil sie so sanft piekste, daß man es gar nicht merkte. Andere sagten, das liege daran, daß sie mit allen Männern schlief, denen sie Spritzen gab, wenn sie halbwegs annehmbar waren. Andere, Barmherzigere, sagten, das sei nicht ihre Schuld, Hintern zu pieksen sei ja nun keine so lustige Arbeit, man solle sich doch mal für eine Minute in ihre Lage versetzen.
»Und?« fragte der Wirt. »Hat sie dich im Graben vergewaltigt?«
»Du bist wirklich ein armer Irrer«, sagte Larquet und rümpfte verächtlich die Nase. »Soll ich dir mal was sagen, Albert?«
»Sag nur.«
»Sie weigert sich, dir den Hintern zu pieksen, und das kannst du nicht ertragen. Deshalb ziehst du alles in den Dreck, was anderes kannst du nicht.«
»Bist du fertig mit deiner Predigt?« fragte der Wirt mit zornfunkelnden Augen.
Albert hatte sehr kleine blaue Augen, die in seinem breiten, ziegelroten Gesicht verschwanden. Er war nicht besonders einnehmend.
»Ja, ich bin fertig, aber nur, weil ich Respekt vor deiner Frau habe.«
»Das reicht jetzt«, sagte Lucie, die ihre Hand auf den Arm ihres Mannes legte. »Was ist los, Larquet?«
»Die Frau vom Tierarzt kam gerade aus Guillos. Drei weitere Schafe sind gerissen worden.«
»In Guillos? Bist du sicher? Das ist ganz schön weit weg.«
»Ja doch, ich erfind doch nichts. In Guillos. Das bedeutet, die Bestie schlägt überall zu. Morgen kann sie in Terres-Rouges sein, und übermorgen in Voudailles. Wenn sie will, wie sie will.«
»Wem gehörten die Schafe?«
»Grémont. Er ist völlig durcheinander.«
»Aber es sind doch nur Schafe«, brüllte eine Stimme. »Und deswegen flennt ihr?«
Alle drehten sich um und sahen in das aufgelöste Gesicht von Buteil, dem Verwalter von Les Écarts. Verdammt, Suzanne.
»Wegen Suzanne, die noch nicht mal begraben ist, hat keiner auch nur eine Träne vergossen! Und ihr flennt wegen ein paar Blökern! Ihr Wichser!«
»Wir flennen nicht, Buteil«, sagte Larquet und streckte den Arm aus. »Vielleicht sind wir alle Wichser, vor allem Albert, aber niemand vergißt Suzanne. Aber auch die ist von der verdammten Bestie umgebracht worden, und wir müssen sie finden, verdammt.«
»Jawohl«, sagte jemand.
»Jawohl. Und wenn die in Guillos sie vorher finden, stehen wir da wie Waschlappen.«
»Wir kriegen sie zuerst. Die
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