Bei Einbruch der Nacht
alles sehen«, fuhr Soliman unbeirrt fort. »Er sah sehr weit und sehr klar, er sah bei Nacht, und er sah die Farben unterhalb von Rot und oberhalb von Lila. Aber er konnte nicht in die Gedanken seiner Frau hineinsehen, und das machte ihn sehr traurig und manchmal verrückt. Deshalb begab er sich zum Gott des Sumpfes und trug seine Bitte vor. Dieser warnte ihn, aber der Mann bat ihn so inständig, daß der Gott es schließlich leid war und nachgab. Von diesem Tag an hatte der Mann nur noch zwei Augen und konnte in die Gedanken seiner Frau hineinsehen. Und was er dort entdeckte, erstaunte ihn so sehr, daß er den Rest der Welt nicht mehr klar sehen konnte. Das ist der Grund dafür, warum die Menschen bis in unsere Tage hinein schlecht sehen.«
Camille drehte sich ein wenig verwirrt zu Soliman um.
»Er erfindet das alles«, sagte der Wacher gereizt und müde. »Er erfindet dämliche afrikanische Geschichten, um die Welt zu erklären. Dabei erklärt das gar nichts.«
»Man kann nie wissen«, sagte Camille.
»Gar nichts«, wiederholte der Wacher. »Es macht sie nur noch komplizierter.«
»Laß die Werkstatt nicht aus den Augen, Camille«, sagte Soliman. »Es macht sie gar nicht komplizierter«, entgegnete er dem Wacher. »Es erklärt nur, warum man zu dritt sein muß, um eine einzige Sache zu sehen. Das macht alles klarer.«
»Das denkst du dir so«, sagte der Wacher.
Um zehn Uhr war noch kein Auto aufgetaucht. Camille, der der Rücken weh tat, hatte sich die Freiheit genommen, auf der kleinen Straße ein paar Schritte zu gehen. Gegen Mittag begann selbst der Wacher den Mut zu verlieren.
»Wir haben ihn verpaßt«, sagte Soliman düster.
»Er ist schon durch«, erwiderte der Wacher. »Oder er ist noch da oben.«
»Er kann wochenlang da oben bleiben«, bemerkte Camille.
»Nein«, wandte Soliman ein. »Er wird sich rühren.«
»Wenn er ein Auto hat, ist er nicht mehr gezwungen, sich nachts fortzubewegen. Er kann tagsüber fahren. Er kann um fünf Uhr abends aus dieser Garage herauskommen, aber genausogut auch erst im Herbst.«
»Nein«, wiederholte Soliman. »Er wird sich nachts fortbewegen und tags schlafen. Man könnte seine Viecher hören, den heulenden Wolf. Das ist zu riskant. Und außerdem ist er ein Nachtmensch.«
»Was warten wir also hier auf ihn, mitten am Tag?« fragte Camille.
Soliman zuckte mit den Achseln.
»›Hoffnung‹«, sagte er.
»Mach das Radio an«, unterbrach ihn Camille. »In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch hat er nicht angegriffen, vielleicht hat er's diese Nacht getan. Such einen Sender von hier.«
Soliman drehte eine Weile am Radio. Der Ton kam und verschwand, es knisterte.
»Verdammte Berge«, murmelte er.
»Respekt vor den Bergen, Sol«, sagte der Wacher.
»Ja«, erwiderte Soliman.
Er bekam einen Sender rein, zunächst leise, dann stellte er ihn lauter.
»...terinärmediziner, der die vorherigen Opfer untersucht hatte, hat Grund zu der Annahme, daß es sich um dasselbe Tier handelt, einen Wolf von ungewöhnlicher Größe. Das Tier hatte, wie bereits gemeldet, im Verlauf der vergangenen Tage mehrere Schäfereien angegriffen und den Tod von Suzanne Rosselin verursacht, einer Bewohnerin von Saint-Victor-du-Mont, die versucht hatte, den Wolf zu erschießen. Diesmal soll er im Lauf der vergangenen Nacht am Tête du Cavalier bei Fours im Departement Alpes-de-Haute-Provence seine Untaten fortgesetzt und fünf Schafe der dortigen Herde angegriffen haben. Die Aufseher des Mercantour-Naturparks sind sich einig, daß es sich um einen jungen Rüden auf der Suche nach einem neuen Revier handelt, und sie hoffen, daß bis...«
Camille streckte rasch den Arm aus, um nach der Karte zu greifen.
»Zeig mir, wo dieser Tête du Cavalier ist«, sagte sie zu Soliman.
»Auf der anderen Seite des Mercantour, ganz im Norden. Er hat das Massiv überquert.«
Mit ausladenden Bewegungen faltete Soliman die Karte auseinander und legte sie Camille auf die Knie.
»Da«, sagte er, »bei den Almen. Er liegt auf der roten Strecke, auf der, die er zwei Kilometer abseits der Landstraße eingezeichnet hat.«
»Er ist vor uns«, sagte Camille. »Verdammt, er ist acht Kilometer vor uns.«
»Scheiße«, sagte der Wacher.
»Was machen wir?« fragte Soliman.
»Wir heften uns an seine Fersen«, erwiderte der Wacher.
»Moment«, unterbrach sie Camille.
Mit gerunzelter Stirn stellte sie erneut das leise vor sich hin laufende Radio lauter. Soliman wollte etwas sagen, aber Camille hob die
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