Bei Einbruch der Nacht
erst bei der ersten Kälte im Oktober verlassen. Würden sie bis dahin, in vier Monaten, vor Loubas im Viehtransporter kampieren? Niemand sprach davon, niemand erwähnte den unsicheren Ausgang dieser Reise. Wenn sie einen Wolf mit Sender verfolgen würden, wären sie auch nicht sicherer. Camille schüttelte im Dunkeln den Kopf, stellte den Kragen ihrer Jacke hoch und nahm einen Schluck von dem heimtückischen Wein. Sie war von gar nichts überzeugt. Sie sah die Geschichte nicht mit der Ungezwungenheit auf sich zukommen, wie es der Greis und das Kind taten. Sie sah etwas Dunkleres, Chaotischeres, im Grunde etwas Schrecklicheres als diese klar vorherbestimmte Fährtensuche, an die sie sich, die Landkarte in der Hand, klammerten.
Und etwas Gefährlicheres. Camille hielt das Fernglas vor ihre Augen. Man konnte an den felsigen, pechschwarzen Abhängen nicht das Geringste erkennen. Massart konnte mitsamt dem Wolf zehn Schritte von ihr entfernt vorbeischleichen, und sie würde es nicht einmal bemerken. Der Hund beruhigte sie. Er würde ihn wittern, bevor Massart mit seinen Tieren über ihr wäre. Camille kraulte sein Fell. Es war zwar ein Hund, der nach Hund stank, schon klar, aber sie war ihm dankbar dafür, daß er sich auf ihren Stiefeln zusammengerollt hatte. Wie hieß der Hund noch gleich? Inberbolt? Insterstock? Was für eine seltsame Angewohnheit, sich auf die Schuhe der Leute zu legen!
Sie knipste die Taschenlampe an, warf einen Blick auf ihre Uhr und machte sie wieder aus. In einer Viertelstunde würde sie Soliman wecken.
Die linke Hand auf dem Hundefell, die rechte um das Glas gelegt, heftete sie den Blick auf den Berg. Der Berg machte sich keine Mühe, sie anzusehen. Er ignorierte sie schlicht.
21
Die Abfahrt vom Mercantour ins Tal in der Morgendämmerung war kaum leichter als der Aufstieg und fast ebenso lang. Kurz vor sechs Uhr parkte Camille mit schmerzenden Armen und kaputtem Rücken den Viehtransporter dreißig Meter vor der Werkstatt des Cousins in Loubas. Jetzt mußte man nur noch warten, bis Massart auftauchte.
Niemand hatte seine Silhouette in den Bergen entdecken können, der Hund hatte die ganze Nacht nicht geknurrt. Massart mußte in großer Entfernung vorbeigekommen sein, hatte der Wacher vermutet.
Camille stieg aus, um Kaffee zu kochen. Ihre Augen brannten leicht. Ihr kam es so vor, als ob der Wacher während der fünf Stunden, die sie gemeinsam schlafend im Laster verbracht hatten, ganz schön geschnarcht hätte, aber das hatte sie nicht besonders gestört. Sie hatte auf dem alten Sprungfederbett in diesem mit Wollschweiß eingefetteten Laster im großen und ganzen nicht schlecht geschlafen. Der Geruch hatte sich auch bei der Kälte nicht verflüchtigt. Diese Geschichte mit dem Gestank, der verfliegt, war ganz einfach ein Wunschtraum von Buteil, ein Märchen, so wie das von den fliegenden Teppichen. In ihrer Erinnerung an die Nacht sah sie einen bedrohlichen Traum vor sich und hörte Geräusche, wie von jemandem, der gegen den Lastwagen schlägt. Aber im Innern war alles ruhig geblieben, und Soliman, der zwanzig Schritte entfernt Wache geschoben hatte, hatte nichts bemerkt. Irvektor, oder wie der Hund auch immer hieß, auch nicht. Vielleicht der Wacher, der einmal aufgestanden war, weil er nicht schlafen konnte. Er hatte gesagt, daß er in manchen Nächten inmitten seiner Schafe bis zum Morgengrauen wachbleibe. Camille nahm die volle Kaffeekanne, Zucker und drei Blechtassen mit.
»Was versteht man eigentlich genau unter ›Wollschweiß‹?« fragte sie, als sie in die Fahrerkabine zurückkletterte. »Schweiß? Talg?«
»›Wollschweiß‹«, antwortete Soliman sofort. »›Ölige Flüssigkeit, die Wolltiere ausschwitzen.‹«
»Ah, danke«, erwiderte Camille.
Soliman machte den Mund zu, wie man ein Buch zuklappt, und alle drei hefteten ihren Blick wieder schweigend auf das Blechtor der Werkstatt. Soliman wollte, daß sechs Augen wachten statt nur zwei. Falls plötzlich ein Auto herausfahren sollte, wären sie in der Lage, zusammen alle entscheidenden Einzelheiten zu erfassen. Soliman hatte die Aufgaben verteilt: Camille sollte sich das Gesicht des Fahrers merken und nichts anderes, der Wacher Marke und Farbe des Autos, er selbst das Kennzeichen. Danach würden sie alles zusammensetzen.
»Zu Beginn der Welt«, meinte Soliman, »hatte der Mensch drei Augen.«
»Scheiße«, sagte der Wacher. »Geh uns nicht mit deinen Geschichten auf die Nerven. Halt einfach die Klappe.«
»Er konnte
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