Bei Einbruch der Nacht
Hand.
»Moment«, wiederholte sie.
»,.. die die Polizei benachrichtigte, als er nicht zurückkam. Das sechsundsechzigjährige Opfer, Jacques-Jean Sernot, ein pensionierter Lehrer, wurde in den frühen Morgenstunden schrecklich verstümmelt auf einem Feldweg in der Nähe von Sautrey gefunden, einem Dorf im Departement Isère. Sein Mörder soll ihm die Kehle durchgeschnitten haben. Nach Auskunft von Familie und Bekannten war Jacques-Jean Sernot ein friedfertiger Mensch, und die Umstände des Dramas sind derzeit ungeklärt. Die Staatsanwaltschaft von Grenoble hat polizeiliche Ermittlungen angeordnet und ist der Ansicht, daß die Einzelheiten...«
»Das betrifft uns nicht«, bemerkte Soliman und sprang aus dem Laster. »Sautrey ist ein kleines Kaff am Ende der Welt, südlich von Grenoble.«
»Wie machst du es, daß du die gesamte Gegend kennst?«
»Das Lexikon«, erwiderte Soliman, während er mühelos das an der Seite des Lastwagens hängende Mofa von der Halterung nahm.
»Zeig mir das auf der Karte«, sagte Camille.
»Da«, sagte Soliman und deutete mit dem Finger darauf. »Das betrifft uns nicht, Camille. Wir werden uns nicht alle Morde des Landes aufhalsen. Das ist mindestens hundert zwanzig Kilometer entfernt.«
»Vielleicht hast du recht. Aber immerhin liegt es auf Massarts Strecke, und dem Typen ist die Kehle durchgeschnitten worden.«
»Na und? Kehle durchschneiden oder erwürgen ist immer noch die beste Methode, wenn du keine Knarre hast. Laß diesen Sernot, verzettel dich nicht, uns interessieren die Schafe. Er ist am Tête du Cavalier vorbei. Vielleicht haben sie dort seinen Wagen gesehen.«
Soliman schob sein Mofa ein paar Meter an, um es zu starten.
»Wartet am Dorfausgang auf mich«, rief er, »ich kauf ein paar Sachen. Wasser, Öl, Essen. Wir essen dann unterwegs.«
»›Vorsorge‹«, sagte er, während er losfuhr, »›Fähigkeit, vorauszuschauen. Das daraus resultierende Verhaltens«
Um halb zwei stellte Camille den Viehtransporter am Eingang von Le Plaisse ab, dem Weiler, der den Weideplätzen vom Tete du Cavalier am nächsten lag, am Rande der D 900. In Le Plaisse gab es eine alte Kirche mit Blechdach, ein Café und etwa zwanzig armselige Häuser aus Steinen, Brettern und Hohlblocksteinen. Das Café überlebte dank der Gaben der Einwohner, die Einwohner überlebten dank der Anziehungskraft des Cafés. Camille hoffte, daß ein nachts am Straßenrand anhaltendes Auto hier bemerkt würde.
Der Wacher stieß mit stolzer Miene die Tür zum Café auf. Seitdem sie den Col de la Bonette überquert hatten, war er am äußersten Ende seines Territoriums angelangt, und Herzlichkeit war hier nicht angebracht. Er hielt es für zweckmäßig, Fremde vor jedem möglichen Kontakt auf Distanz zu halten und ihnen gegenüber mißtrauisch zu sein. Er grüßte den Wirt mit einem kurzen Zeichen. Dann wanderte sein Blick rasch durch den kleinen, düsteren Raum, in dem sechs oder sieben Männer zu Mittag aßen, und blieb auf einem Mann in der Ecke haften, der ebenso weißes Haar hatte wie er selbst und eine Schirmmütze trug, eine gebeugte Gestalt mit starrem Blick, die Faust um ein Glas Wein geschlossen.
»Hol einen Weißwein aus dem Laster«, befahl der Wacher Soliman mit einer Kopfbewegung. »Ich kenne den Typen. Das ist Michelet, der Schäfer von Le Seignol, er wandert mit seinen Schafen häufig am Tête du Cavalier.«
Der Wacher setzte würdevoll seinen Hut ab, nahm Camille bei der Hand - es war das erste Mal, daß er sie berührte - und bewegte sich etwas hochmütig auf den Tisch des Schäfers zu.
»Ein Schäfer, dem ein Schaf gerissen wurde«, sagte er zu Camille, ohne sie loszulassen, »ist nicht mehr derselbe Mann. Er wird niemals mehr derselbe Mann sein. Er ist verändert, und man kann nichts machen.«
Der Wacher setzte sich an den Tisch des zusammengesunkenen Schäfers und streckte ihm dabei die Hand hin.
»Fünf Tiere, stimmt's?« sagte er.
Michelet warf ihm einen leeren, ungläubigen Blick zu, in dem Camille echte Verzweiflung las. Er hob nur die fünf Finger seiner linken Hand, wie zur Bestätigung, während seine Lippen schweigend Worte formulierten. Der Wacher legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Mutterschafe?«
Der Schäfer nickte und preßte die Lippen zusammen.
»Harter Schlag«, erwiderte der Wacher.
In diesem Moment kam Soliman herein und stellte die Flasche auf den Tisch. Wortlos nahm der Wacher Michelets Glas schüttete mit einer gebieterischen Geste den Inhalt durchs Fenster
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