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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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›Aber rein gar nicht‹, antwortete der Mensch. ›Ich scheiß auf die anderen.‹ Daraufhin geriet der Gott des Sumpfs in schreckliche Wut und nahm dem Menschen den Geschmack am Blut, an frischem und rohem Fleisch. Von dem Tage an mußte der Mensch alles kochen, was er zum Munde führen wollte. Das brauchte viel Zeit, und die Krokodile hatten in ihrem Reich des rohen Fleischs Ruhe.«
    »Warum nicht«, sagte Camille.
    »Daraufhin übergab der gedemütigte Mensch, der zur einzigen Kreatur geworden war, die Gekochtes ißt, die ganze Arbeit der Frau. Nur ich nicht, ich, Soliman Melchior, weil ich gut geblieben bin, weil ich schwarz geblieben bin und weil ich keine Frau habe.«
    »Also gut«, sagte Camille.
    Soliman schwieg und leerte seinen Teller.
    »Nicht sehr gesprächig, die Leute hier«, bemerkte er dann.
    Er hielt dem Wacher sein Glas hin.
    »Weil sie Angst haben«, erwiderte der Wacher, während er ihm einschenkte.
    »Sie haben kein Wort von sich gegeben.«
    »Weil sie nichts zu sagen haben«, sagte Camille. »Sie wissen nicht mehr als wir. Sie haben Radio gehört, nicht mehr. Wenn sie etwas wüßten, würden sie es sagen. Kennst du auch nur einen Menschen, der etwas weiß und es nicht sagt? Nur einen einzigen?«
    »Nein.«
    »Na, siehst du. Alles, was sie wissen, haben sie gesagt. Daß der Typ Lehrer in Grenoble war, daß er vor drei Jahren hier in Rente gegangen ist.«
    »Hier in Rente gegangen...«, wiederholte der Wacher nachdenklich.
    »Das ist das Dorf seiner Frau.«
    »Das ist keine Entschuldigung.«
    »Alles gerät ins Stocken«, bemerkte Soliman. »Wir verfaulen hier wie eine Feige, die vom Baum gefallen ist. Stimmt doch, oder?«
    »Wir werden doch wohl nicht zwischen diesen Holzhaufen hier steckenbleiben«, sagte der Wacher. »Wir machen weiter mit dem Rod-Muwie. Wir heften uns an seine Fersen.«
    »Red nicht so einen Schrott«, rief Soliman. »Wir wissen doch nicht mal, wo seine Fersen sind, verdammt! Ob sie hier sind, vor uns, hinter uns oder in der Kirche!«
    »Reg dich nicht auf, Junge.«
    »Aber kapier's doch! Merkst du nicht, daß wir den Faden verlieren? Daß wir nicht mal mehr ein Knäuel in der Hand haben? Daß wir keinerlei Möglichkeit haben, rauszufinden, ob es wirklich Massart war, der Sernot die Kehle aufgeschlitzt hat? Womöglich wissen die Bullen schon, wer's war, vielleicht sein Sohn, vielleicht seine Frau? Und was machen wir währenddessen in diesem Laster?«
    »Wir essen und trinken«, sagte Camille.
    Der Wacher schenkte ihr ein.
    »Vorsicht«, sagte er. »Der ist heimtückisch.«
    »Wir haben keine Ahnung!« rief Soliman, der sich immer mehr erregte. »Wir haben keine Ahnung, das aber mit Geduld und Hartnäckigkeit. Wir verbringen Stunden und Stunden damit, keine Ahnung zu haben. Und die ganze kommende Nacht ist eine lange Nacht ohne Ahnung.«
    »Beruhige dich«, sagte der Wacher.
    Soliman zögerte, dann ließ er seine Arme auf die Knie fallen. »›Unwissenheit‹«, erklärte er mit etwas ruhigerer Stimme. »›Allgemeiner Mangel an Wissen, Nichtvorhandensein von Kenntnis.‹«
    »Genau das«, bemerkte Camille.
    Der Wacher machte sich daran, drei Zigaretten zu drehen, anzulecken und anzudrücken.
    »Wir müssen hier abziehen«, sagte er. »Wir brauchen nur zu den Bullen zu gehen, die sich um diesen Sernot kümmern. Wo sitzen die?«
    »In Villard-de-Lans.«
    Soliman zuckte mit den Schultern.
    »Glaubst du etwa, daß die Bullen uns mal eben so ihre Informationen mitteilen? Daß sie uns mal eben so erzählen, was der Arzt gesagt hat? Mir vielleicht? Dir? Ihr?«
    »Nein«, erwiderte der Wacher und verzog das Gesicht. »Ich glaube, daß sie uns schnell mal nach unseren Papieren fragen und uns dann rausschmeißen.«
    Er streckte Camille die eine, Soliman die andere Zigarette hin.
    »Und wir können ihnen auch nicht sagen, daß wir hinter Massart her sind, nicht wahr?« fuhr Soliman fort. »Was meinst du wohl, was die Bullen mit einem Schwarzen, einem Alten und einer Lasterfahrerin machen, die hinter einem Unschuldigen her sind, um ihm die Meinung zu sagen?«
    »Sie behalten sie gerade da.«
    »Ganz genau.«
    Soliman schwieg erneut und zog an seiner Zigarette.
    »Drei Unwissende«, sagte er nach einer Weile kopfschüttelnd. »Die drei Unwissenden aus der Fabel.«
    »Was für eine Fabel?« fragte Camille.
    »Eine Fabel, die ich mir ausdenken werde und die ›Die drei Unwissenden‹ heißen wird.«
    »Ach so.«
    Soliman stand auf und ging auf und ab, die Hände hinter dem Rücken

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