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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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zu, wie das Tageslicht durch das Gestänge des Sichtfensters drang und der Staub in den schrägen Strahlen tanzte. In diesem Staub mußte es mehr als nur die gewöhnlichen Bestandteile geben. Mikropartikel von Heu, Wollschweiß und schwebendem Schafsmist, die sich im Morgenlicht bewegten. Es war bestimmt ein sehr kräftiger Staub, eine seltene Mischung. Camille zog die Decke bis unters Kinn. In der Nacht war es nicht gerade warm gewesen in diesem nebligen Dorf, sie hatten die von Buteil zurechtgelegten Reisedecken rausholen müssen. Was würde es sie kosten, Adamsberg anzurufen? Rein gar nichts, wie Soliman immer sagte. Adamsberg war ihr egal, er war in den Tiefen ihrer Erinnerung verschwunden, da, wo alles verkohlt, zu Staub zerfällt und sich neu zusammensetzt, wie in den Recycling-Fabriken, wo aus einem alten Traktor ein völlig neuer Korbsessel gemacht wird. Im Grunde war Adamsberg recycelt worden. Nicht zu einem Korbsessel, nein, ganz sicher nicht, denn Camille benutzte so etwas nicht. Aber zu Reisen, zu Partituren, zu 5/80er Schrauben, zu einem Kanadier, warum nicht. Die Erinnerung macht mit dem Material, das man ihr zum Verschrotten gibt, was sie will, das ist ihre Sache, man hat kein Recht, seine Nase in ihre Angelegenheiten zu stecken. Jedenfalls war von dem Jean-Baptiste Adamsberg, den sie so sehr geliebt hatte, nichts mehr übrig. Nicht ein Nachhall, nicht ein Echo, nicht ein Bedauern. Ein paar flache, verblaßte Bilder natürlich. Diese Fähigkeit der Erinnerung, gnadenlos Menschen und Gefühle zu zermahlen, hatte Camille eine Zeitlang niedergeschmettert. Soviel Zeit damit verbracht zu haben, sich mit einem Kerl zu beschäftigen, der sich nun in 5/80er Schrauben verwandelt sah, konnte einen schon nachdenklich werden lassen. Und Camille war nachdenklich geworden. Natürlich hatte ihre Erinnerung ganz schön Zeit gebraucht, um all diese Arbeit zu leisten. Unbestreitbar ziemlich viel Arbeit. Nicht enden wollende Monate des Zermahlens und Schrotens. Dann etwas Träumerei. Dann nichts mehr. Nicht ein Aufschrecken, nicht ein Zwinkern. Ein paar Erinnerungen aus einer anderen Welt.
    Was sollte es ihr also ausmachen, Adamsberg anzurufen? Nichts. Außer Ärger im vorhinein, Verdruß bei der Vorstellung, in den toten Fetzen einer fremden Vergangenheit zu rühren. Jenen Verdruß, den man empfindet, wenn man wegen einer so lästigen Sache wie einem zu überprüfenden Gashahn umkehren muß. Umwege, verlorene Zeit, tote Zeit. Die Anstrengung eines nutzlosen Abstechers durch die abgefackelten Felder ihrer Erinnerung.
    Aber mit seinem Schmerz, mit seinem überzeugenden Blick, mit seinen Fabeln, Märchen und Definitionen hatte Soliman eine Bresche in die Mauern ihres Egoismus geschlagen, und so hatte Camille die ganze Nacht das Zaudern erlebt, den Luxus der Weisen. Und die ganze Nacht hatten Massart und seine Fangzähne, die dicke Suzanne, ihr schwarzer Säugling und der Wacher ihren mißmutigen Widerstand bedrängt.
    Als der Morgen kam, befand sie sich in einer Sackgasse, sie schwankte auf dem schmalen Grat des Zauderns und war in zwei gleichgroße Teile gespalten, auf der einen Seite ihre Weigerung, unverrichteter Dinge nach Les Écarts zurückzukehren, auf der anderen ihr Unbehagen bei der Vorstellung, Jean-Baptiste Adamsberg zu Hilfe zu rufen.
    Soliman und der Wacher auf der anderen Seite der Plane waren bereits aufgestanden. Sie hörte, wie der junge Mann das Mofa von der Halterung nahm, sicherlich auf der Suche nach frischem Brot. Dann, wie der Wacher Hemd und Hose anzog. Dann roch sie Kaffeeduft und hörte das zurückkehrende Mofa. Camille schlüpfte in ihre Jacke, ihre Jeans und zog ihre Stiefel an, bevor sie den Boden berührte - man konnte in dem Viehtransporter nicht barfuß laufen.
    Soliman lächelte, als er Camille sah, und der Wacher deutete mit der Spitze seines Stocks auf einen Schemel. Der junge Mann schenkte ihre Kaffeeschale voll, tat zwei Stück Zucker hinein, schnitt ihr Brotscheiben ab.
    »Ich werd jetzt eine Lösung finden«, sagte Camille.
    »Wir haben nachgedacht, junge Frau«, sagte der Wacher.
    »Wir fahren nach Hause«, verkündete Soliman. »›Rückkehr. Gezielte Bewegung in umgekehrter Richtung zur vorangegangenen Bewegung.‹ Eine Rückkehr ist keine Niederlage. Was das angeht, ist das Wörterbuch sehr deutlich: es spricht nicht von Niederlage.«
    Camille runzelte die Stirn.
    »Kann das nicht noch warten?« fragte sie. »In ein, zwei Tagen gibt es vielleicht neue Schafe. Dann wissen wir,

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