Bei Einbruch der Nacht
die Hände auf seinem Stock, die Welt bei ihrem Treiben mit vager Verachtung beobachten, Interlock auf seinen Füßen, schien ihm wenn auch nicht zu seinem Glück, so doch zu seinem Seelenfrieden zu genügen. Soliman dagegen wurde Stunde um Stunde neugieriger, gieriger. Der Trubel in Avignon faszinierte ihn. Dieses neuerwachte Interesse für etwas anderes als Les Écarts, dieser Hang zum Ausreißen, dieses Vergnügen daran, mit dem Mofa zu verschwinden, sei es tags, sei es nachts, erschreckten den Wacher. Je früher sie den Blutsauger erwischen würden, desto früher würden sie ihm den Wanst aufschlitzen und desto früher würde Soliman heimkehren und in der Schäferei wieder zur Ruhe kommen.
Ein Stückchen weiter saß Camille auf einem Campingstuhl im Schatten und löffelte eine Portion Reis mit Olivenöl. Auch sie wartete auf Adamsberg - ohne sich zu freuen und ohne sich zu ärgern. Ihn wiederzusehen war weniger aufreibend gewesen, als sie befürchtet hatte. Und ihn zu überzeugen hatte sie keinerlei Mühe gekostet. Noch bevor sie ihm davon erzählt hatte, hatte er den Eindruck erweckt, für diese Wolfsgeschichte der Richtige zu sein. Er war ihr voraus, so als ob er sie schon immer barfuß an diesem Rhone-Ufer erwartet hätte. Soliman dagegen konnte das Auftauchen des Bullen kaum erwarten und ließ die Einfahrt des Campingplatzes nicht aus den Augen, während der Wacher schweigend auf der Hut war.
Adamsberg traf zur verabredeten Stunde am Steuer eines Dienstwagens, der die Altersgrenze erreicht hatte, bei ihnen ein. Wenige Worte wurden gewechselt, Händeschütteln, kurzes Vorstellen. Der Kommissar schien die deutlich bekundete Distanz des Wachers nicht einmal zu bemerken. Gesellschaftliche Konventionen hatten ihn noch nie beeinflußt. Adamsberg war untauglich, sich kollektiven Zwängen zu unterwerfen, und stand den Grundsätzen von Ehrerbietung und den Ritualen von Sitten und Gebräuchen unwissend gegenüber; er pflegte seine Beziehungen zu anderen Menschen auf seine etwas schmucklose Weise, die frei von Zurückhaltung, aber auch frei von Macht war. Es hatte für ihn kaum Bedeutung, wer wen beherrschte, solange man die Güte hatte, ihn auf seinem Weg in Frieden zu lassen.
Das einzige, worum er bat, war die Straßenkarte von Massart. Er breitete sie auf dem staubigen Boden aus und sah sie sich lange und mit einem vagen Ausdruck von Sorge an. Alles an Adamsberg war vage, und man konnte nie sicher sein, auf seinem Gesicht den Widerschein der Wirklichkeit zu lesen.
»Diese Route ist seltsam«, sagte er. »All diese kleinen Straßen, die ganzen Abzweigungen. Ganz schön kompliziert.«
»Der Typ ist kompliziert«, sagte Soliman. »Wahnsinn ist kompliziert.«
»Wenn er trödeln und sich schnappen lassen wollte, würde er sich nicht anders verhalten. Wo er Frankreich doch an einem Tag durchqueren und das Land verlassen könnte.«
»Man hat ihn immer noch nicht geschnappt«, bemerkte Soliman.
»Weil er nicht gesucht wird«, erwiderte Adamsberg und faltete die Karte zusammen.
»Wir suchen ihn.«
»Zweifellos«, sagte Adamsberg lächelnd. »Aber wenn ihm alle Bullen auf den Fersen sein werden, wird er sich den Luxus, ewig auf Hohlwegen und in Kirchen hängenzubleiben, nicht mehr leisten können. Ich verstehe nicht, warum er nicht die Autobahn nimmt.«
»Er hat zwanzig Jahre lang alle Straßen des Landes abgeklappert, als er noch Stuhlflechter war«, sagte Camille. »Er kennt die unauffälligen Straßen, die Verstecke und auch die Ecken mit Schafen. Ihm ist daran gelegen, als tot zu gelten. Vor allem aber versteckt er einen Wolf.«
»Er streift nachts umher«, mischte sich der Wacher ein. »Er bringt Menschen und Vieh um und schläft tagsüber. Deshalb fährt er so wenig. Sein Instinkt hält ihn davon ab, sein Gesicht zu zeigen. Und er versteckt sich weit abseits der Menschen, weil das seine Natur ist.«
Kurz vor ein Uhr nachts erreichte der Viehtransporter Sautrey. Adamsberg war ihnen durch den Nebel vorausgefahren und erwartete sie geduldig am Ortseingang. Er ließ seine Gedanken vom Wolf zur Karte treiben, zu Soliman, zu dem Viehtransporter, zu Camille. Er war dem Zufall dankbar, der Camille auf seinen Weg geführt und ihn selbst auf die Route des großen Wolfs gesetzt hatte, aber verwundert war er nicht. Er fand es natürlich und legitim, sich mit diesem Tier auseinanderzusetzen, das mit dem ersten Blutbad in sein Leben getreten war. Er fand es auch natürlich, Camille gegenüberzustehen. Sie am Ufer des
Weitere Kostenlose Bücher