Bei Einbruch der Nacht
einen fünfzig Zentimeter breiten Gang von ihr getrennt. Das war nicht viel. Aber besser noch Adamsberg in dieser heiklen Nähe als der Wacher oder Soliman, der Camille seit ihrem Aufbruch von Les Écarts ziemlich unsicher vorkam.
Besser noch Adamsberg, denn das Nichts ist immer einfacher als das Etwas. Auch trauriger, aber einfacher. Wenn sie den Arm ausstreckte, könnte sie ihn an der Schulter berühren. Sie hatte Hunderte von Stunden, den Kopf an ihn gelehnt, geschlafen und dabei stets fast vollkommenes Vergessen gefunden. So daß sie geglaubt hatte, Adamsberg sei wie durch Zauberei für sie geschaffen und sie könne nichts dagegen tun. Aber heute störte sie seine Anwesenheit nicht einmal. Sie hätte gerne gewollt, Lawrence würde hier schlafen. Die Gefühlslandschaft, in der sie mit dem Kanadier wandelte, unterschied sich grundlegend von der offenkundigen Leidenschaft, die ihre frühere Verbindung mit Adamsberg beherrscht hatte. In gewisser Weise war sie bescheidener, bisweilen durchzogen von gewöhnlichen Hintergedanken und nebensächlichen Vorbehalten. Aber Camille interessierte sich nicht mehr für Ideale. Abgebrüht war sie, genau, das war sie geworden.
Der Wacher mußte auf die Seite gerollt sein, er hatte aufgehört zu schnarchen. Der Genuß einer kurzen Ruhepause. In der Stille hörte sie Adamsbergs regelmäßigen Atem. Auch er war ohne weitere Anstalten eingeschlafen. Leb dein Leben, Kamerad. Das also bleibt vom Glauben, von der Größe: gleichgültige Atemzüge.
Von solchen nüchternen Gedanken wachgehalten, schlief Camille spät ein und wachte erst gegen neun auf. Sie griff nach ihren Stiefeln, bevor sie die Füße auf den Boden setzte, und ging auf die andere Seite der Plane.
Soliman lag mit aufgestützten Ellbogen auf seinem Bett und las im Wörterbuch.
»Wo sind sie?« fragte Camille, während sie Kaffee machte. »Rutsch mal ein Stück, Strickzeug«, sagte sie zu dem Hund, als sie sich auf das Bett des Wachers setzte.
»Interlock«, verbesserte sie Soliman.
»Ja, entschuldige. Wo sind sie?«
»Der Wacher telefoniert mit der Herde. Anscheinend war das Leitschaf gestern abend nicht in Form, ein geschwollener Knöchel. Psychosomatisch. Der Alte ist dabei, es aufzumuntern. Ein hinkendes Leitschaf, da torkelt die ganze Herde.«
»Hat es einen Namen?«
»Es heißt George Gershwin«, antwortete Soliman und verzog das Gesicht. »Der Wacher hat einen Namen aus dem Wörterbuch nehmen wollen, aber er hat es bei den Seiten mit den Eigennamen aufgeschlagen. Da war's zu spät, um es zu ändern, gesagt ist gesagt. Wir nennen es George. Auf jeden Fall hat es einen geschwollenen Knöchel.«
»Und Jean-Baptiste?«
»Er ist in aller Frühe zu den Gendarmen von Sautrey gefahren, dann hat er seinen Wagen genommen, um zu den Bullen von Villard-de-Lans zu fahren. Er hat gesagt, die Staatsanwaltschaft hätte denen die Ermittlungen übertragen, so was in der Art. Er hat gesagt, wir sollen nicht mit dem Essen auf ihn warten.«
Adamsberg kam gegen drei zurück. Soliman wusch Wäsche in einer blauen Wanne, Camille saß in der Fahrerkabine und komponierte, und der Wacher hatte es sich auf einem Schemel bequem gemacht und summte, während er den Kopf des Hundes kraulte. Adamsberg betrachtete die drei, die ein wenig wie Nomaden wirkten. Er freute sich, zum Laster zurückzukommen.
Er holte einen Segeltuchklappstuhl aus dem Viehtransporter, eines dieser verrosteten Dinger, die einem die Finger abzwicken, und stellte ihn auf dem kurzgeschnittenen Rasenstück neben dem Laster auf. Soliman kam als erster zu ihm. Sein gestriger Eifer hatte sich noch gesteigert. An diesem Bullen gefiel ihm alles, das unregelmäßige Gesicht, die beruhigende Stimme, die langsamen Gesten. Am Morgen hatte er begriffen, daß dem Kommissar trotz seiner offensichtlichen Eigenschaften Behutsamkeit und Offenheit niemand etwas voraushaben oder ihn beeinflussen konnte, kein Mensch, kein Befehl, keine Konvention. Und das erinnerte ihn - auf einer ganz anderen Ebene - an die eherne Unabhängigkeit seiner Mutter. Er hatte ihn zum Wagen begleitet und ihm lange von Suzanne erzählt.
Soliman setzte die Wanne vor Adamsberg ab. Der zehn Schritte entfernt sitzende Wacher unterbrach sein Summen.
»Rede, mein Junge«, sagte er. »Wie wurde Sernot umgebracht?«
»Von einem sehr großen Hund oder einem Wolf«, antwortete Adamsberg.
Der Wacher stieß mit dem Stock auf den Boden, wie um mit einem dumpfen Stoß die Richtigkeit ihrer Sicht der Dinge zu
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